Dann blickte sie auf Darons stilles Gesicht, das feucht und grau war – einen langen, eindringlichen Augenblick lang betrachtete sie es. Schließlich beugte sie sich darüber, küsste es, betrachtete noch einmal die geliebten Züge, ehe sie Daron die Augen zudrückte und durch sein feuchtes Haar strich. Sie drehte sich um, hob sein Schwert auf und befestigte den Beutel mit Oduracs Asche an ihrem eigenen Gürtel.
Ban-Itos ging zur Tür und öffnete sie. Eine größere Schar Söldner wartete auf dem Korridor. Die Männer waren müde und kampfgezeichnet, doch bereit, Sonja zu folgen, wohin sie sie führen mochte. Sonja trat auf die Schwelle, blickte auf ihre Männer, zählte sie. Sie war erleichtert, dass so viele den Kampf auf der Treppe überlebt und ihr so weit hatten folgen können. Sie war stolz auf sie, trotz der Trauer über Daron, ihren Geliebten.
Nunmehr wandte sie sich Ban-Itos zu und sagte grimmig: »Wenn es meinen Tod bedeutet, dann soll es so sein. Ich werde Daron rächen!«
»Daron hätte nicht sterben dürfen!« Ban-Itos schüttelte den Kopf. »Meine Zeit war abgelaufen, nicht seine. In seinen Sternen stand nichts von Unheil. Es ist, als stünde er unter einem Fluch, der den Tod auf ihn übertrug.«
»Ja, ein Fluch!« Sonjas Augen wurden hart, entschlossen. »Osylla …«
Dann schritt sie vorwärts. Ihre Soldaten machten ihr Platz und bildeten eine Gasse für sie. Die Rote Sonja von Hyrkanien schritt hindurch und führte sie an – den Korridor entlang zum Hohentempel der Zikkurat und zu dem Zauberer, der über ihn herrschte, und zu dem Stern des Untergangs.
Auf halbem Weg in dem Gang, der den Tempel mit der gewaltigen Höhle verband, stießen sie auf einen Haufen verstümmelter und versengter Leichen.
Nein – nicht alle waren Leichen. Da und dort verriet ein Auge noch Leben, bewegte sich mühsam ein Arm, oder zuckten blutige Finger. Finster blickte Sonja hinab auf diese Beklagenswerten, die von einer Gangseite zur anderen verstreut lagen. An ihrer Rüstung und Kleidung erkannte sie sie als Ostors Barbaren. Offenbar hatten sie die anderen gegen die Priester auf den Brücken kämpfend zurückgelassen, in der Hoffnung, den Hohentempel plündern zu können, und waren dabei blindlings in Stahl und mörderische Zauberei gerannt. Zwischen ihnen lagen auch einige blaugewandete Priester.
Als sie durch und über die Leichen trat, entschlossen, Thotas um jeden Preis zu erreichen, hörte sie jemanden schwach ihren Namen rufen. Sie zuckte zusammen, und ihr Blick wanderte suchend über den Haufen Gemetzelter, um festzustellen, welcher der grimmigen Krieger in Leder und Kettenrüstung es für wichtiger hielt, im Sterben nach ihr zu rufen, statt Frieden mit seinen Göttern zu schließen.
»Rote – Sonja …«
Da sah sie ihn. Sein Gesicht war ihr zugewandt. Blut sickerte aus Nase und Mund und verkrustete bereits im Schnurrbart und Bart. Er war helmlos, und auch sein langes dunkelblondes Haar war blutbesudelt.
»Rote …« Es war Ostor, der großsprecherische Führer der kleinen Armee Gesetzloser, der hier auf einem Korridor in einer Hexerfestung starb, ein armseliges Überbleibsel seiner ehemaligen Großspurigkeit.
»Ostor!« rief Sonja. »Warum hast du nicht gewartet?«
»Welcher Wahnsinn ist dies hier?« flüsterte er düster, während sich Schleier vor seine Augen schoben. »Du hast uns geradenwegs in die Hölle geführt! Alle meine Männer sind … tot! Blitze und blauer Rauch … Kreaturen aus den Höllen … Dies ist nicht die Erde … Ich sterbe inmitten eines Alptraums … Enkidu verfluche dich!«
»Du warst ein Narr!« zischte Sonja ihn an. »Du wolltest alles Plündergut für dich allein!«
»Es gibt hier kein Gold«, keuchte Ostor. »Hier war auch nie eines. Hier gibt es nur den Tod … und Flammen … und diese Ungeheuer in Menschengestalt.«
»Du bist ein Narr, Ostor. Und du stirbst den Tod eines Narren. Das hast du nur deiner Habgier zuzuschreiben.«
»Ich … ich wurde in eine Falle geführt. Du hast mich … in den Tod geführt!«
»Du selbst bist an deinem Tod schuld, Narr! Du hast Männer geführt, obwohl du nicht einmal dich selbst beherrschen konntest! Du wolltest uns alle betrügen!«
»Du hast uns angelogen! Hier gibt es keine Schätze!«
Sonja zuckte die Schulter. »Woher willst du das wissen? Diese Höllenpriester haben vielleicht ungeheure Reichtümer in ihren Gewölben versteckt. Aber meinetwegen können sie im Höllenfeuer schmelzen!«
»Du bist … wahnsinnig, Weib!«
»Und du bist ein Narr!« Sonja wandte sich von ihm ab.
»Gib mir den Gnadenstoß! Töte mich!« flehte Ostor zitternd. »Töte mich, lass nicht zu, dass ich an zaubergeschlagenen Wunden sterbe.«
»Was macht das schon für einen Unterschied?« fragte Sonja. »Du hast vom Brandschatzen gelebt, Ostor! Hast Hunderte unschuldiger Steppenbewohner in den Tod geschickt! Du wirst bis zum Ende der Welt in den Höllen brennen, ob ich dir den Gnadenstoß gebe oder nicht.«
Seine Augen schlossen sich, das Gesicht verzerrte sich in unerträglichem Schmerz, er erschauderte kurz – und erschlaffte.
Sonja betrachtete ihn düster und wunderte sich über ihre Gefühle. Was war dies für ein Hass, der sie einen Sterbenden verhöhnen ließ – selbst wenn es ein so grausamer, erbarmungsloser wie Ostor war? Lag es daran, dass der Wahnsinn des Sterns in ihr wuchs? Dann war es das beste, sie machte hier so schnell wie möglich ein Ende, denn Daron hatte versprochen, dass einige überleben würden. Also würden welche übrig bleiben und froh sein, wieder unvergiftete Luft atmen zu dürfen. Dabei war es ihr egal, ob sie zu ihnen gehören würde oder nicht.
Sie blickte von dem soeben Verstorbenen hoch über den Rest der Toten und wollte sich auf den Weiterweg machen – da standen plötzlich neun Blaugewandete ihr jenseits des Leichenhaufens gegenüber – bleiche, kahlköpfige Männer, die sie reglos mit gelben Augen anstarrten.
Funkelnd erwiderte sie ihren Blick und spannte sich zum Angriff, falls einer sich auch nur im geringsten bewegte.
Aber sie rührten sich nicht. Der vorderste fragte mit ruhiger Stimme: »Seid Ihr die Führerin dieser Barbaren?«
»Ja!« antwortete Sonja knapp.
»Wir möchten mit Euch sprechen.«
»Dann tut es. Oder handelt – was immer euch lieber ist. Euer Leben kostet es auf jeden Fall.«
»Wir möchten nicht sterben, weder durch Eure Hand noch durch Thotas’. Genauso wenig wie Ihr sterben wollt, was Ihr zweifellos würdet, wenn Ihr versuchtet, Euch gegen uns zu stellen. Beenden wir das Töten!«
»Welche List habt Ihr im Sinn?« fragte Sonja scharf. Sie spürte, dass Ban-Itos herbeikam, und sah ihn aus den Augenwinkeln, als er neben ihr stehen blieb.
»Keine List!« versicherte ihr der vorderste Priester. »Wenn Ihr uns helft, Thotas zu vernichten, beschützen wir Euch vor ihm.«
»Also doch eine List!« murmelte Sonja.
Ban-Itos flüsterte ihr ins Ohr. »Das glaube ich nicht.«
»Wir möchten Euer Versprechen, dass Ihr uns helft«, fuhr derselbe Priester fort. »Ihr habt von uns nichts zu befürchten.«
»Hunderte, ja Tausende sind gefallen, in eure Höllengrübe gestürzt oder durch eure Hexerei gemordet«, erinnerte Sonja ihn.
»Wir hätten euch vernichten können, als ihr über die Steppe kamt, wäre uns nicht viel von unserer Kraft entzogen gewesen. Thotas und sein Stein haben sie uns gestohlen – und etliche der euren ebenfalls.«
Sonjas Augen blitzten, und ihre Nasenflügel zitterten.
»Es stimmt«, flüsterte Ban-Itos ihr wieder zu. »Das Wesen im Stein ist wahrhaftig ein Ajar-Alazwat, ein Schmerzfresser, der von der Kraft lebt – und durch sie wächst –, die er allem Lebenden in seiner Reichweite entzieht. Wir hätten wahrhaftig vernichtet werden können, hätte dieses Ungeheuer im Tempel die Priester nicht zurückgehalten. Ich weiß nun, dass unsere Entschlossenheit gegen ihre Zauberei nichts ausgerichtet hätte.«
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