Sonja schrie wie besessen. Mit erhobenem Schwert sprang sie die Treppe hinunter, gerade als Ban-Itos völlig erschöpft und stöhnend auf die Knie fiel.
Das lebende Skelett des Priesters stürzte sich auf den noch benommenen Daron. Die Knochenhand schlug gegen Darons Brust und durchdrang die Kettenrüstung. Daron schrie auf. Ein neuer Geruch versengten Fleisches stieg auf.
Sonja raste über den Absatz und schmetterte das Schwert herab.
»Stirb! Stirb! Stirb!« heulte sie.
Ihre Klinge trennte die grässliche Knochenhand vom Arm. Das Schwert zischte und rauchte, als es das Gerippe berührte, das ein Mensch gewesen war. Mit der flachen Klinge stieß Sonja es über die Brüstung in den Abgrund.
Daron fiel auf den Rücken. Wo die Knochenhand seine Brust berührt hatte, war nun ein Aschenfleck, umgeben von den geborstenen Gliedern des Kettenhemds. Sonja warf sich neben ihn auf die Knie. Ban-Itos kroch mit letzter Kraft zu ihnen.
Der greise Zauberer blickte in Darons Augen. »Ihr Götter! Ihr Götter!« stöhnte er. »Das war ein Versehen! Es hätte nicht sein dürfen! Das war nicht sein Los …«
»Daron! Daron!« rief Sonja flehend.
Er ächzte und öffnete die Augen, doch als er Atem holen wollte, verzog sein Gesicht sich vor Schmerzen und Tränen rollten über seine Wangen. Dunkles Blut, vermischt mit der Asche auf seiner Brust, sickerte aus der verglühten Rüstung, und zwei weiße Rippen waren durch die zerrissenen Muskeln und das angesengte Fleisch zu sehen.
»Mitra! Mitra!« schluchzte Sonja. »Ban-Itos, rettet ihn!«
Der Greis blickte sie nur an, und Tränen glitzerten in seinen Augen.
»Mitra!« hauchte Sonja.
Sie stand auf und schaute hinter sich. Drei Soldaten warteten auf der Treppe. Sie hatten gesehen und gehört, was passiert war, aber sie waren auf den Stufen geblieben und erwarteten Sonjas Befehl.
Sonja blickte sie an, dann sah sie zu der großen dunklen Türöffnung über ihnen. Die Treppe endete dort.
Sie blickte Ban-Itos an. »Sind dort oben Gemächer?«
Er nickte.
»Wir müssen ihn in eines bringen.«
»Rote Sonja, Thotas und der Stern sind …«
Sie wandte sich von ihm ab und winkte die Soldaten herbei. »Kommt und tragt ihn hoch!«
Die drei hoben Daron vom Boden. Sie waren so behutsam wie nur möglich, trotzdem stöhnte Daron, und frisches Blut quoll aus der Wunde.
»Hinauf!« zischte Sonja die Männer an.
Vorsichtig trugen sie ihn den letzten Treppenlauf hoch. Sonja folgte ihnen, und hinter ihr Ban-Itos. Die Treppe endete an einem Korridor, der in Richtung Zikkuratspitze führte. Die Wände hier sahen wie neuerbaut aus. Sonja ging vor den drei Soldaten her, und als sie zur ersten von mehreren Türen in diesem Gang kam, versuchte sie die Klinge hinunterzudrücken.
Die Tür ließ sich öffnen. Dahinter befand sich eine Kammer mit einer Liege, einem Tisch, Stühlen und Bücherregalen – die Zelle eines Priesters.
»Hier herein!« rief sie.
Sie trugen Daron in die Kammer und legten ihn auf das harte Bett. Ban-Itos folgte ihnen nicht, sondern hielt Wache. Sonja sah, wie Daron um Atem ringend in der Düsternis lag. »Zündet eine Fackel an«, befahl sie ihren Männern. Einer kniete sich nieder, dann war das Scharren von Feuerstein und Stahl zu hören, und schon flammte eine Fackel auf, die sie in eine Wandhalterung steckten. Oranger Schein fiel über Darons bleiches Gesicht.
»Geht jetzt«, wies Sonja die Söldner an. Als sie nicht sofort Schritte hörte, die vom Rückzug der Männer kündeten, brauste sie auf: »Geht! Geht! Lasst mich mit ihm allein!«
Bestürzt über ihren Ton wichen sie zurück. Sonja folgte ihnen, bis sie über der Schwelle waren, dann schlug sie die schwere Holztür zu und schob den Riegel vor. Als sie sich wieder dem Lager zuwandte, ließ sie das Schwert zu Boden fallen. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie zu Darons Bett zurückkehrte und davor auf die Knie sank.
Ob überhaupt Geister ein Heim hier finden konnten, in dieser trostlosen Umgebung, in dieser Zikkurat, die über einem Höllenschlund erbaut war?
Sonja spürte, wie die Kälte aus der Welt der Toten sich um sie stahl und sie wie ein eisiges Leichenhemd einhüllte. Schlug ihr Herz noch? Hatte sie wahrhaftig das Leben gelebt, an das sie sich erinnerte? Gab es irgendwo irgendwelche Antworten, wahre Antworten, die jemand inmitten all des Wahnsinns zu finden vermochte, die Leben und Tod boten?
Welcher Fehler war begangen worden, dass die Zeit nicht wie ein Pfad rückwärts beschriften werden und die Wahrheit gelehrt werden konnte, die dies ermöglichte?
Neben dem geliebten Mann kniend, lauschte sie seinem qualvollen Atmen und spürte den Schmerz seiner Wunde am eigenen Körper. Es zerriss ihr beinah das Herz. Sie blickte in seine halbgeschlossenen Augen und suchte nach einem Hinweis auf die Sterne, dem Versprechen einer Rückkehr. Doch da war nur der Schmerz und das Verlangen nach Erlösung.
Mitra! Eine Leere hatte sich im Herzen der Welt aufgetan!
Ihr wurde nun klar, dass der Trost von hunderterlei Möglichkeiten sie beschäftigt hatte, und zwar sowohl bewusst wie unbewußt, während all der langen Stunden der Entbehrungen, der Furcht und Gefahr, die sie mit Daron geteilt hatte, und deshalb konnte sie vermeiden, sich der Wahrheit in ihrem Herzen zu stellen.
Und nun starb Daron.
Daron, der einzige Mensch, dem Sonja je begegnet war, der aufgrund seines eigenen Seins die Einsamkeit verstand, die ihre Seele sogar den Seelen ihrer besten Freunde entfremdete; und in dieser Entfremdung hatte er ihre Treue gegenüber der gesamten Menschheit erkannt. Er hatte verstanden.
Die Tiefe des Abgrunds unter der Zikkurat war nicht größer als die von Sonjas Trauer.
Sie rutschte auf den Knien dichter heran und spürte seinen schwachen Atem an ihrer Wange. Ihre Lippen zitterten.
»Daron …?«
Seine Hand griff kraftlos nach ihrer, verfehlte sie, tastete herum. Sonja legte die Finger über seine und hielt sie, hielt sie ganz fest – hielt Daron fest.
»Daron, kannst du mich hören? Pass auf …«
Er drückte ihre Hand, schwach zunächst, dann drängender. Er hob die Lider nun ganz und blickte ihr in die Augen. Seine wirkten im orangen Fackelschein eingefallen.
»Daron …«
»Sonja, ich …« Er hustete. Frisches Blut quoll aus der Wunde und rann ihm über die Seite.
»Still, Daron. Ruh dich aus.«
»Nicht jetzt. Ich – sterbe, S-sonja …«
»Ruhig, Daron!«
»Sonja, ich liebe dich, und ich bin ein Narr.«
»Ruhig, Daron, ruhig!«
Er lächelte, doch das machte sein Gesicht zur Grimasse. Seufzend schloss er die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Ihr Gesicht war seinem nahe, und er spürte ihren Atem warm auf der Wange.
»Was bin ich für ein Narr!« flüsterte er heiser. »Was versuchte ich zu beweisen? Und doch …«
»Daron, sei still! Unsere Soldaten sind dabei, die Zikkurat einzunehmen – sie werden ein Ende mit Thotas machen. Ich hole jetzt Ban-Itos herein. Er kann dir helfen. Er wird dich heilen …«
»Für mich gibt es keine Heilung mehr. Ich sterbe, Sonja. Und ich möchte sterben. Kannst du das verstehen? Oder glauben? Ich nicht, und doch …«
»Bitte, Daron, bitte! Du bist verwundet, doch Ban-Itos kann dir wirklich …«
»Ich möchte sterben, Sonja. Ich muss – um meines Vaters willen –, das schulde ich den Menschen, wer immer und wo immer sie auch sind. Ich schulde es dir …«
»Daron! Wie kannst du so etwas sagen!«
»Ich würde dir nur Leid bringen, Sonja, wenn ich am Leben bliebe. Weißt du das nicht?«
»Ich weiß es nicht. Und es ist mir egal!«
»Mir nicht. Ich bin der – Sohn eines bösen Zauberers. Und du …«
»Mitra, es stört mich nicht!« rief sie. Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich war die Närrin, Daron – ich wusste nicht, wie sehr ich dich liebe! Mutter Mitras, ich schwöre bei den Göttern, dass ich nie zuvor in meinem Leben so empfand! Nie, nie!«
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