Das Geschöpf war groß – so groß wie Daron – und männlichen Geschlechts. Es hatte gespenstische Augen, aber nicht ganz so unheimliche wie jene Ungeheuer, die Sonja und Daron getötet hatten. Und es konnte sprechen.
»Geht!« sagte es heiser zu Daron. »Kehrt um, sogleich! Wir wollen euch nicht!«
»Wir sind aus einem bestimmten Grund gekommen«, entgegnete Daron, »und wir werden weiterziehen, wenn wir dazu bereit sind.«
Sonja schaute sich wachsam um, um sicherzugehen, dass keine anderen Sumpfungeheuer zu sehen waren, obwohl sie annahm, dass sie sich hinter jedem einzelnen Baum und Buschwerk versteckt hielten. Sie ging ein paar Schritte auf Daron zu und sah, dass des Sumpfmannes weiße tote Augen nun sie anblickten.
»Ich muss zu Osylla«, erklärte Daron.
Die Kreatur fletschte die Zähne und hob die schmutzigen Hände, als wollte sie etwas abwehren. »Geht jetzt, oder wir werden …«
»Bring uns zu Osylla, der Hexe«, sagte Daron ruhigen Tones, »oder ich muss dich dazu zwingen.«
»Nichts Böses! Nichts Böses!« jammerte der Sumpfmann und fuchtelte mit den Armen. »Geht jetzt, oder wir tun euch etwas an! Geht jetzt, oder …«
Daron erachtete das als Aufforderung zu handeln. Er hob die Rechte, öffnete sie und warf sein Pulver geradewegs ins Gesicht des Monsters.
Es hustete, als der Staub seinen Kopf einhüllte. Daron wich ein Stück zurück, um nicht selbst das Pulver einzuatmen. Dann, als das Sumpfwesen blindlings umherstolperte und fast auf die Knie stürzte, ging er wieder näher und drückte schnell die Rechte auf die Brust der Kreatur, geradewegs über dem Herzen.
»Nein! Nein!« wimmerte der Sumpfmann. Er fasste nach Darons Hand und versuchte sie wegzuziehen, doch vergebens.
»Jetzt gehörst du mir«, sagte Daron. »Du musst meine Fragen beantworten. Dein Geist ist nicht dein eigener, und du bist nicht länger Osyllas Eigentum.«
Die Kreatur begann zu weinen. »Du hast mich verhext«, murmelte sie. Tränen rannen durch den Schmutz der Wangen, während sie Daron anstarrte. »Ja, ja, ich muss dir gehorchen.«
»So führe uns zu Osylla!«
Das Wesen wehrte sich dagegen, und die Tränen flossen stärker – doch der Wille des tödlichen Sumpfungeheuers konnte Darons seltsamem Pulver nicht widerstehen. Der junge Zauberer wandte sich an Sonja, die mit der Hand am Schwert herangekommen war.
»Sitz auf«, forderte er sie auf, »und hilf Urrim in den Sattel!«
Sie tat es und führte Darons Pferd heran, und er saß ebenfalls auf.
»Du hast mich verhext«, klagte der Sumpfmann erneut. »Verhext …«
»Führ uns!« befahl Daron. »Oder ich töte dich. Du bist machtlos.«
Wispernd und mit rasselnder Kehle drehte die Kreatur sich um und stapfte langsam um den Tümpel herum auf den Wald zu, Daron schüttelte den Kopf, denn das war nicht der Pfad, den zu nehmen er vorgehabt hatte.
Sonja lenkte ihr Pferd dichter an Darons Tier heran, während sie dahintrotteten.
»Osylla?«
»Ja.« Er nickte. »Eine Hexe.«
»Das schloss ich bereits.«
»Eine Verbündete meines Vaters.«
»Ich verstehe.«
»Ich weiß nur, dass sie zumindest früher in diesem Sumpf hauste. Wenn diese Kreatur uns zu ihr führt …«
Er beendete den Satz nicht.
»Werden wir deinen Vater finden?« fragte Sonja.
Daron zuckte die Schulter, dann wanderte sein Blick von Sonja zu Urrim, der hinterdreinritt.
Sonja verspürte ein nagendes Unbehagen, nur wusste sie nicht, weshalb …
Es war eine Insel mitten im Sumpf – eine große Insel, dicht mit Bäumen und dickem grünen Sumpfmoos bewachsen, ringsum von einem trägen schmutzigen Fluss umgeben. Der verhexte Sumpfmann schritt geradewegs zum Flussufer, ehe er sich zu Daron umdrehte.
»Weiter kann ich nicht gehen.«
»Ich verstehe«, versicherte ihm Daron. »Wie können wir den Fluss überqueren?«
»Dort!« Die Kreatur deutete auf eine riesige Eiche, deren mächtige Wurzeln unter dem stehenden stinkigen Wasser verschwanden. »Geht von diesem Baum geradewegs zu dem fast gleichen auf der Insel. Weicht nicht vom Weg ab, sonst fallt ihr ins Wasser und sterbt.«
Daron schwang sich aus dem Sattel und blickte zu der gewaltigen Eiche am anderen Ufer. »Danke«, sagte er schließlich zu der Kreatur.
Die schüttelte den Kopf und wich in den Sumpf zurück. »Ihr werdet sterben«, sagte sie mit gurgelnder Stimme. »Osylla wird eure Herzen stehlen und an die Dämonen verfüttern, oder sie wird euch zu meinesgleichen machen …« Dann watete das Scheusal davon.
Urrim rutschte unruhig in seinem Sattel. »Ich habe Angst«, flüsterte er.
Sonja grinste ihn an. »Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, Junge. Das Schlimmste haben wir überstanden.«
»Nein. Nnnnh …«, entgegnete er und schlug nach Mücken, die ihm um den Kopf summten. »Mehr Schlimmes, mehr Schlimmes.«
Daron ging mit seinem Pferd voraus. Vorsichtig stieg es vom Ufer ins Wasser. Fester Boden lag unmittelbar unter der trüben Wasseroberfläche. Daron führte es mit gutem Zureden weiter, genau auf die Eiche gegenüber zu.
Sonja beobachtete ihn, dann stieß sie Urrim an. »Jetzt du!«
»Ich habe Angst.«
»Geh nur, ich bin bei dir, Urrim!«
Er blickte sie an, und plötzlich sprach ein so grenzenloses Vertrauen aus seinen Augen, dass Sonja wieder dieses mütterliche Gefühl für ihn empfand. Sie schluckte. »Komm, Urrim! Wir wollen doch Daron nicht im Dunst aus den Augen verlieren.«
Sonja führte ihr Pferd, und Urrim folgte. Behutsam überquerten sie den Fluss. Die Hufe schienen regelrecht auf seiner Oberfläche aufzusetzen.
Am anderen Ufer kletterte Darons Hengst einen steilen schlammigen Hang hinauf. Daron rief zu Sonja zurück: »Da ist eine Hütte – irgendein Bauwerk – auf einer Lichtung.«
Er eilte voraus. Sonja blickte ihm nach, dann drängte sie ihr Pferd vorwärts, doch nicht schneller, als Urrim ihr folgen konnte.
»Alles in Ordnung, Urrim?«
»Ich – mag Wasser nicht.«
»Es ist auch ein seltsames Wasser.« Sie zweifelte nicht, dass grässliche Wesen links und rechts in der dunklen Tiefe lauerten.
»Ich mag dich!« erklärte Urrim ihr.
Sie lächelte ihn an. »Das freut mich, denn ich mag dich ebenfalls, Urrim.«
»Da – ein Haus da oben?«
»Ich glaube ja.«
Urrim bemühte sich, sein Pferd dicht hinter Sonja zu halten. »Was – wer wohnt dort?«
»Osylla. Erinnerst du dich?«
»Eine Hexe.« Urrim nickte.
Auch sie hatten den Fluss nun verlassen und kletterten das schlammige Steilufer hinauf. Eine aus Holz und Stein erbaute Hütte stand in der Mitte einer Lichtung. Urrim schob das Kinn vor und schien zu wittern.
»Hexe ist hier.«
»Wie kannst du das wissen?« wunderte Sonja sich laut.
»Sie ist hier …«
»Du scheinst keine sonderliche Angst zu haben.«
Sein Pferd warf den Kopf unruhig herum und begann zu tänzeln. Urrim wurde im Sattel hin und her geworfen. Schnell griff Sonja nach den Zügeln. Der Junge beugte sich vor, schirmte den Mund mit einer Hand ab und flüsterte dem Pferd etwas ins Ohr. Sofort trottete die Stute ruhig weiter.
Daron stand neben seinem Hengst und blickte Sonja und Urrim entgegen. Hinter ihm öffnete sich die Hüttentür. Sonja nickte Daron zu und warnte ihn mit einem Blick. Er wirbelte herum, und zum ersten Mal in seinem Leben sah er Osylla.
Sie war schön, was Daron so verwirrte, dass er seine Wachsamkeit vergaß. Und sie schien noch jung zu sein – nicht älter als Anfang zwanzig. Sie hatte weich fallendes goldblondes Haar und leuchtendgrüne Augen. Sie war schlank und trug ein Mieder aus weichem Leder, das vorn nicht ganz bis oben zugeschnürt war, so dass ein Stück des Spalts zwischen den Brüsten zu sehen war; und ihr kurzer Rock aus grober Wolle wies Schlitze an den Seiten auf. Die Füße steckten in leichten Wildlederschuhen. Alles war einfach und ohne Zierrat. Alles dies überraschte Daron. Er hatte damit gerechnet, eine hässliche, dürre Alte vorzufinden, die in dieser Wildnis auch wie eine Wilde gekleidet war.
Читать дальше