Das Lagerhaus war riesig, einen halben Block lang und breiter als jedes andere Gebäude in der Stadt. Hier hatte man einst Handelsgüter aller Art aufbewahrt: Mehl, Weizen, Mais, sogar Ballen mit schneeweißer Wolle. Von allem, was zur Zeit des Feuers hier gelagert hatte, war nur noch Asche geblieben.
Lavim flitzte in das Gebäude, dem das Dach fehlte. Er patschte durch schwarze Regenpfützen voll Asche zu der Treppe hinten im ersten Stock. Givrak und seine Soldaten polterten hinter ihm her. Sie stießen Flüche und Drohungen aus und scheuchten die Leute wie Hühner vor einem Hagelsturm auseinander.
Das Gebäude war von Brandgeruch durchzogen. Am Fuß der Treppe verharrte der alte Kender. Es gab immer noch ein Obergeschoß, zumindest einen Teil davon. Es schob sich wie ein Heuboden von der Treppe aus vor, schwarzgerändert und zersplittert und nur über die halbe Breite des Gebäudes. Von diesem Balkon aus würde er völlig ungestraft die Steine feuern können, die er aufgesammelt hatte.
Während er ein paarmal tief Luft einatmete, betrachtete Lavim die Treppe. Er beschloß, daß ein leichtfüßiger Kender es wagen konnte, und machte sich auf den Weg nach oben. Doch er beeilte sich, immer nach dem Motto, daß ein leichter, schneller Schritt die jetzt schon knackende Treppe weniger belasten würde als ein schwerer, vorsichtiger. Als er die Hälfte der Stufen geschafft hatte, den linken Fuß oben, den rechten unten, stöhnte die untere Stufe und brach dann splitternd ein.
Lavim reagierte schnell. Er warf sich gegen die Wand und griff haltsuchend nach oben. Da war kein Halt. Wie ein einstürzendes Kartenhaus brachen die oberen Stufen vom Obergeschoß ab. Lavim kreischte, sprang und erwischte den zersplitterten Rand des Bodens.
Als seine Hände sich an das morsche Holz klammerten und der Rest von ihm an ausgestreckten Armen über dem Abgrund baumelte, dachte Lavim, daß es jetzt besser für ihn wäre, wenn Kender Flügel hätten.
Er verlor fast den Halt, als ein hartes, bellendes Gelächter vom Erdgeschoß aus erschallte. Givraks Reptilienaugen glitzerten unheilvoll in dem grauen Licht. Seine dünne, schlangenhafte Zunge zuckte, als er zu dem Kender hochlachte.
Sein Leben lang hatte Lavim einem sicheren Ziel nicht widerstehen können. Er verdrehte sich und spuckte zwischen seinen Ellbogen hindurch. Obwohl er früher stolz auf seine Zielsicherheit gewesen war, hatte sie ihn in letzter Zeit im Stich gelassen. Jetzt aber tat sie das nicht. Er traf Givrak genau zwischen die Augen. Der Wutschrei des Drakoniers hallte durch das leere Lagerhaus.
Lavim wich der silbernen Flugbahn eines geworfenen Dolches aus und zog sich hoch. Er schlang eine Hand um einen verbrannten, wackligen Pfosten. Er zog, merkte, wie der Pfosten etwas nachgab, und ließ die Hand wieder auf den Boden fallen.
Givrak lachte grimmig und kalt. »Gib’s auf, du kleine Ratte! Du kannst nirgends hin, und ich habe etwas mit dir zu bereden.«
Lavim wand sich wieder, bekam ein Knie hoch, um dann zurückzurutschen. Die geschwächten Balken des Obergeschosses ächzten.
Metall schlug auf Holz. Der Drakonier zog seine Rüstung aus. Lavim, dessen Neugier nicht einmal versiegen würde, wenn er kurz davor stand, in die düsteren Schrecken des Abgrunds zu fallen, sah wieder hinunter. Givraks Rüstung lag als roter Metallhaufen auf dem Boden. Sein Kurzschwert steckte zwischen langen, fangzahnbewehrten Kiefern. Seine weiten, knochigen Lederflügel mit ihren Krallen falteten sich mit groben, ungelenken Bewegungen auf. Die anderen drei traten grinsend zurück. Sie witterten das Ende der Jagd.
Es sind Gleitflügel, erinnerte sich Lavim, und Drakonier können nicht richtig fliegen. Das weiß doch jeder…
Givrak konnte nicht fliegen, doch er hatte dicke, kräftige Beine, mit denen er höher springen konnte, als es sich selbst Lavim hatte vorstellen können. Beim ersten Sprung griff die lange Klauenhand des Drakoniers nach dem wackligen Pfosten, an dem Lavim hing, verfehlte ihn jedoch.
Beim zweiten Mal, als seine schwarzen Flügel kräftig nach unten schlugen, erwischte Givrak den geborstenen Rand des Bodens mit der einen Hand und nahm mit der anderen das Schwert aus dem Maul.
Jetzt beeilte sich der Kender. Er zog beide Knie bis ans Kinn, warf sich herum und schmiß sich auf den knarrenden Boden. Givrak hievte sich mit gräßlichem Lachen ebenfalls hoch.
Das Kaninchen war nicht mehr so sicher, daß es den Spürhund abschütteln konnte.
Lavim zog seinen Dolch aus dem Gürtel und stieß wild zu. Die Klinge verwundete den harten, schuppigen Arm des Drakoniers nur wenig. Lavim stach abwärts durch Givraks linken Flügel, duckte sich unter dem Riesenarm des brüllenden Untiers hindurch und zog dann die Klinge durch den rechten, ledrigen Flügel des Drakoniers wieder hoch. Eine riesige Klauenhand ergriff Lavims Handgelenk und verdrehte es brutal. Die betäubten Hände des Kenders ließen den Dolch fallen.
Mit dem Überlebenswillen seiner Art rammte Lavim Givrak das Knie in den Bauch. Als der Drakonier aufheulend zusammensackte, zog Lavim so fest wie möglich das zweite Knie unter Givraks Kinn hoch. Seine Zähne knallten aufeinander, und der Kopf schnellte hoch. Lavim riß seine Hand los, schnappte sich seinen Dolch und flitzte los.
Er konnte nirgends hin.
Wo früher Wände gewesen waren, waren jetzt nur noch feuergeschwärzte Balken und Pfosten und dann der Himmel. Ein Zugbalken ragte wie ein schwarzer Finger aus der Seite des Gebäudes heraus. Darunter waren die kalten, harten Pflastersteine der Straßen von Langenberg. Lavim blieb stehen und drehte sich um. Der hinkende Drakonier mit seinen zerrissenen Flügeln kam drohend auf ihn zu. In seinen schwarzen Reptilienaugen stand Mordlust geschrieben.
Kender denken nicht oft, aber wenn sie es tun, denken sie schnell. Lavim Sprungzeh wartete gerade lange genug, bis Givrak etwas schneller geworden war, dann rannte er in den Himmel hinaus.
Stanach hatte den Elf seit dem Morgen vergeblich gesucht. Mit dem Kender war das etwas anderes. Von dem hörte Stanach überall.
Der Küfer, der Hufschmied, der Kerzenmacher, alle fluchten über ihn. Der Küfer wollte seinen kleinen Dechsel zurück. Der Hufschmied schwor, er würde Lavim Karvad ausliefern, wenn er nicht bis Mittag seinen Stempel und seine Meißel zurückhätte. Der Kerzenmacher verfluchte sein schlimmes Los, daß er die Beutezüge der Armee überlebt hatte, nur um dann zu sehen, wie seine letzten Waren von einer Kenderplage hinweggerafft wurden.
Stanach versuchte nicht, dem Mann zu erklären, daß ein einzelner Kender wohl kaum eine Plage darstellen konnte. Wortklaubereien hingen, was Kender betraf, davon ab, auf welcher Seite des Tresens man stand.
Immer noch auf der Suche nach Tyorl kreuzte der Zwerg Lavims Weg beim Fleischer, beim Gerber und beim Töpfer. Ein Junge hatte den Kender durch ein Gäßchen über die Straße in eine Taverne flitzen sehen. Dort hörte er, daß Lavim wirklich in der Taverne gewesen war, aber nur kurz. Er wurde von Drakoniersoldaten verfolgt.
Givrak! Es konnte niemand anders sein. Stanach dachte an Tyorl und das Schwert. Mit jeder Stunde nahm die Wahrscheinlichkeit ab, daß der Elf wußte, wo das Schwert war. Aber er war Stanachs einzige Spur. Wenn diese Spur sich als ergebnislos erwies, würde er bald woanders suchen und zu Pfeifer zurückkehren müssen.
Der Kender konnte bestimmt auf sich selbst aufpassen. Das konnten Kender meistens. Genau, dachte Stanach dann, aber wenn sie ihn fangen? Er wollte nicht daran denken, was mit Lavim passieren würde, wenn der Drakonier ihn erwischte.
»Verdammter Kender!« murrte er. Er beschloß, er könnte auch gleichzeitig nach Kender und dem Elf Ausschau halten.
Das nächste, was Stanach hörte, war, daß Lavim mit fliegendem weißem Zopf und höchster Geschwindigkeit auf ein ausgebranntes Lagerhaus zugerast war, immer noch verfolgt von den Drakoniern. Widerstrebend prüfte Stanach den Sitz seines Schwertes und ging zu dem Lagerhaus.
Читать дальше