»Wie Sadhur?«
»Ihr wisst davon? Hat Yarise …«
»Ich schloss es.«
»Ihr habt richtig geschlossen«, knurrte Du-jum. »Sadhur starb unter grauenvollen Schmerzen, weil er versuchte, edel zu sein – wie Ihr, und jetzt windet er sich in den sieben Höllen.«
»Wenn Ihr meint. Aber selbst falls es so ist, zieht er dieses Los bestimmt vor.«
»Seid nicht so sicher. Sadhurs Geschick ist bereits entschieden – Eures noch nicht. Ihr werdet mir sagen, was ich wissen will. Unter dieser Stadt gibt es Gänge, Höhlen …« Bei diesen Worten stand Du-jum auf und ging näher an Omeron heran, der ihm argwöhnisch entgegenblickte. »Sie führen zu … anderen Orten. Ich brauche Zugang zu ihnen. Sie sind schwer zu finden und älter als die Menschheit. Sie durch Zauberkräfte finden zu wollen, verstärkt nur den sie verbergenden Schutzschild. Es ist bekannt, dass manchmal Menschen durch Zufall auf sie stießen. Diese Zufälle sind selten, kommen jedoch vor. Offenbar vergaßen die Errichter dieser Tore, sie vor ungewollter, zufälliger Entdeckung zu schützen.«
»Ich weiß nichts von solchen Gängen«, sagte Omeron hart.
»Vielleicht nicht, Fürst. Doch falls Ihr es wisst, werde ich es erfahren. Erzählt mir von diesen Gängen, dann ‚wird Euch meine Gnade und Barmherzigkeit widerfahren. Wenn nicht …«
»Ich sagte Euch, dass ich nichts über sie weiß!«
»Und ich sage, dass ich Euch nicht glaube.« Du-jum seufzte. »Ich hatte es befürchtet. Strenge Führer sind hartnäckige Gefangene. Doch was in der Staatskunst klug ist, Omeron, ist in anderen Bereichen häufig töricht. Ihr lasst mir keine Wahl.«
»Ich hatte keine Wahl von dem Augenblick an, da Ihr Thesrad überfallen habt, Hexer.«
Du-jum lächelte finster. »Ich bewundere Euch wirklich, Omeron. Denkt daran, wenn ich Euch Schmerzen verursachen muss, habt Ihr es Euch selbst zuzuschreiben.«
»Bringt es hinter Euch, Hexer!«
»Nun gut. Wie Ihr wollt.« Du-jum kam noch näher und streckte die Arme aus.
Die Wachen auf dem Korridor vernahmen einen plötzlichen grauenvollen Schmerzensschrei aus dem Gemach – dann noch einen und weitere.
»Brecht die Tür auf!« befahl Sonja.
Der Tag war halb vorüber. Elath hatte ihnen gerade versichert, dass er keine Wärter mehr in der Nähe fühlte. Nun suchten die sechs Omeron-Soldaten mit den Spitzen ihrer schweren Dolche entlang dem Türrahmen nach schwachen Punkten. Das Schloss, vor langer Zeit eingerastet, war völlig verrostet und unmöglich zu öffnen. Am meistversprechenden waren die Angeln.
»Es sind keine normalen Angeln«, murmelte Elath und studierte sie, während die sechs Soldaten arbeiteten. Es war eine seltsame Vorrichtung von Kugeln in einer Halterung: Eisenstäbe mit kugeligen Enden, im Türrahmen befestigt, paarweise mit Mulden in der Wand so verbunden wie Ellbogen- oder Kniegelenke, durch Stifte festgehalten. Es war erstaunlich, denn diese Angeln schienen weit komplizierter zu sein als erforderlich und in der ganzen Anordnung ausgeklügelter denn nötig. Sonja fragte sich, wie alt diese Gänge wohl waren und wer – oder was – sie erbaut hatte.
Doch welchen Ursprung diese Angeln auch haben mochten, dem festen Stahl und den kräftigen Armen vermochten sie nicht lange zu widerstehen. In kürzester Zeit hatten Sonja und ihre Begleiter, schwitzend und keuchend in der verbrauchten Luft, vier der eisernen Ellbogen auseinander gerissen. Die schwere Tür kippte beim vierten bedrohlich nach innen.
Dann zogen alle sechs Männer die Tür vorsichtig zurück, sie knarrte, scharrte und wäre nun fast auf sie gestürzt, doch sie duckten sich unter ihr hinweg und ließen sie auf den Boden fallen.
»Wer ist da?« – »Was war das?« – »Was ist los?« riefen die Gefangenen erstaunt aus ihren Zellen und versuchten durch das Gitter zu sehen. »Ihr Götter! Es muss Du-jum sein!«
»Still, ihr alle!« rief Sonja ihnen zu und bemühte sich, zwar verständlich, aber nicht zu laut zu sein. »Wir sind Widerstandskämpfer! Lord Omeron ist in die Stadt zurückgekehrt, doch viele seiner Soldaten wurden heute morgen überwältigt.«
»Widerstandskämpfer!«
»Fürst Omeron!«
»Er lebt?«
»Hört mir zu! Wir sind vielleicht die letzten, die noch frei sind. Wir werden euch aus den Verliesen holen, aber wir müssen geschlossen handeln!«
Inzwischen befanden Sonja und die anderen sich etwa in der Mitte des Korridors, schauten sich sorgfältig um, beobachteten alle Gefangenen und sprachen unmittelbar zu ihnen.
»Wir machen mit, Mädchen!«
»Ja! Holt uns hier heraus, und wir helfen euch, Du-jum umzubringen!«
»Wir kämpfen mit euch für Omeron!«
»So sagt uns, wo die Schlüssel sind. Wo bewahren die Wärter sie auf?«
»An einem Ring!« rief Kiros. »Der fetteste Wächter hat ihn an seinem Gürtel hängen.«
»Und wo sind die Wächter? Noch hier in diesem Kellergeschoß?«
»Folgt diesem Gang«, wies Kiros sie an, »dann findet ihr nach einigen Biegungen den Eingang zur Wachstube. Dort halten sich die Wärter auf. Zumindest immer zwei, manchmal mehr.«
Sonja schaute ihre Leute an, sofort sagte ein Soldat ohne Zögern. »Ich gehe. Ich werde schnell zurück sein.«
»Nimm noch zwei Mann mit.«
Die drei eilten mit gezückten Schwertern den Korridor entlang und verschwanden um die nächste Biegung. Ihre Schritte verhallten rasch.
Sonja ging auf die Stelle zu, aus der der junge Kiros durch die Gitterstäbe spähte und die Hände um sie verkrampft hatte. »Wie viele seid ihr hier?«
»Schwer zu sagen. Ich wurde vergangene Nacht hier hergeschafft. Sie nahmen mich mit einem von Lord Omerons Offizieren gefangen, aber ihn brachten sie nicht hierher.«
»Sadhur?«
»Ja, so hieß er.«
»Gut. Wie viele seid ihr hier?« wandte Sonja sich nun an alle.
Nach dem Stimmendurcheinander, das ihr antwortete, schloss sie auf zumindest zwanzig oder fünfundzwanzig.
Sie kehrte wieder zu dem Jüngling zurück. »Du heißt also Kiros?«
»Ja. Ich bin ein Rebell. Ich möchte für Lord Omeron kämpfen.«
»Mein Name ist Sonja. Ich stamme nicht aus Thesrad, aber Lord Omeron rettete mir das Leben, als ich schwerkrank war, deshalb helfe ich ihm.«
Kiros nickte. »Eine Söldnerin?«
»Ja. Kennst du dich, im Palast aus?«
»Einigermaßen, doch vielleicht nicht so gut wie andere hier. Aber gemeinsam finden wir uns bestimmt zurecht.«
»Gut. Wir müssen ohnehin beisammenbleiben und herausfinden, was vorgeht. Wir müssen uns einen Plan einfallen lassen, wie wir Du-jum überraschen können.«
»Das werden wir! Er ist …«
In diesem Augenblick kehrten die drei mit Blut an ihren Klingen zurück und ließen die Schlüssel an einem Ring klingeln. Wieder riefen alle in den Zellen laut durcheinander.
»Geduld! Geduld!« mahnte Sonja. »Wir holen euch gleich heraus.«
Sie wandte sich an den Mann mit den Schlüsseln. »Irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Keinerlei. Es waren vier. Ehe sie uns bemerken konnten, waren sie bereits tot.«
Sonja nickte. Sie begann am Ende des Korridors mit dem Aufschließen, bis alle befreit waren.
Yarises Einladungen zu dem Fest, das am selben Abend im Hauptthronsaal stattfinden sollte, wurden schnell und höflich von allen außer einem der dreiundfünfzig Edlen beantwortet, die sich noch in der Stadt befanden. Der eine, der sie nicht erwiderte, hatte sich am Morgen selbst in sein Schwert gestürzt, wie Yarise erfuhr.
Das ist vermutlich besser für ihn, dachte sie, während sie in ihrem Gemach hin und her ging. Besser, dass er tot und nicht mehr hier war. Sie sollten alle sterben, alle diese hochnäsigen Edlen, die sie immer verachtet hatten. Und bald würden sie tot sein – bald!
Trotzdem verspürte sie ein leichtes Unbehagen. Es verlief nicht alles so, wie sie es gehofft hatte. Du-jum beschäftigte sich nicht mehr soviel mit ihr wie anfangs. Verlor sie ihre Macht über ihn? Hatte sie denn je wirklich welche über ihn besessen? Schmollend schürzte sie die Lippen. Es war ungerecht! Sie hatte Omeron verhöhnt, weil sie sich ein Lob von Du-jum versprochen hatte, aber er hatte sich kaum um sie gekümmert. Schließlich – und das war das Schlimmste – konnte sie dem Hexer nicht damit dienen, was ihm offenbar am wichtigsten war. Sie verstand wenig von alter Zauberei, wusste nichts über die Gänge und Höhlen unter der Stadt, die angeblich zu den Sieben Höllen führten. Sie fragte sich, ob er ihre Gegenwart nun als lästig empfand und nicht mehr als warmes Licht?
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