»Ja …« Sie bückte sich, um. die Öllampe aufzuheben, dabei bemerkte sie etwas, das wie eine ungewöhnliche Reliefverzierung auf der Steinplatte aussah. Als sie sich tiefer beugte und genauer hinschaute, stellte sie fest, dass es gar kein Zierwerk war, sondern ein so stark schmutzverkrusteter Dolch, dass er tatsächlich wie ein Teil des Steins aussah.
Sie stellte die Lampe daneben, fasste den Griff und zog daran. Die Klinge löste sich aus der Hülle: eine steinerne Scheide, die Teil der runden Platte war.
»Sonja!« Die Stimme klang jetzt verärgert, zum Teil aus Furcht, zum anderen aus Ungeduld.
Eine andere fragte: »Was ist denn das?«
Elath antwortete: »Ein Dolch. Es ist ein Dolch!«
Und ein sehr ungewöhnlicher noch dazu, wurde Sonja nun bewusst – makellos und glänzend, wie frisch von der Schmiede, und von perfekter Form. Sie kratzte die Schmutzkruste vom Griff ab, der nun ebenfalls wie neu aussah und offenbar aus Jade geschnitzt war. Er lag in ihrer Hand, als wäre er für sie geschaffen. Die Klinge war aus – ja, woraus war sie? Aus Kupfer oder Bronze, Silber oder Stahl? In dem trügerischen Lampenlicht war es schwer zu sagen – vielleicht wäre es jedoch selbst im hellsten Licht nicht anders, denn er schien aus sich heraus stumpf zu leuchten. Auf der Klinge glühten Zeichen. Sonja vermochte sie weder zu lesen, noch hatte sie, so weitgereist sie auch war, je ähnliche gesehen. Auch der Griff war erstaunlich. Er war kunstvoll geschnitzt und auf Hochglanz poliert. Im Lampenschein betrachtete sie ihn genauer: winzige Geschöpfe waren eingeschnitzt: am oberen Ende etwas, das wie ein geflügelter Krake aussah, und, davon ausgehend und sich nach unten ziehend, ausschwärmende Schlangen, in seltsam geometrischer Anordnung. Die Gesichter wirkten so dämonisch und lebendig im schwach flackernden Lampenlicht, dass sich Ekel in Sonja rührte. Sie hatte im Lauf der Jahre so manche seltsamen Tore geöffnet und eigenartiges Land betreten, ohne sich sonderlich Gedanken zu machen, was dahinter liegen mochte, doch nie zuvor hatte sie eine solche Nähe zur Außenwelt empfunden, zu …
»Sonja!« rief Elath. »Verliert Euch nicht!«
Sie schreckte aus ihrer Betrachtung hoch, nickte und stand auf, sowohl von einer unheimlichen Ahnung, wie von der Warnung des Zauberers bewegt. Sie steckte den Dolch mit dem Jadegriff in ihren Gürtel, hob die Lampe auf und kehrte zur Öffnung zurück. Sie kletterte hindurch und war so geistesabwesend, dass sie nicht auf die Hände der Männer achtete, die ihr herabhalfen.
Auf dem Gang nahm Elath ihr die Lampe ab und schritt wieder voraus. Nur ein Soldat interessierte sich für Sonjas Fund.
»Das war ein Dolch?«
»Ja.«
»Darf ich ihn sehen?«
»In diesem Licht?« Sie schüttelte den Kopf. Irgendwie widerstrebte es ihr, sich auch nur kurz von der Waffe zu trennen. »Es ist bloß ein alter Dolch. Er mag noch recht nützlich sein.«
»Mhm.«
Sie folgten dem verwinkelten Korridor noch eine Weile. Die entfernten Stimmen wurden deutlicher, der Luftzug stärker, und Licht schien in den Gang. Alle bewegten sich mit äußerster Vorsicht. Nach ein paar weiteren Biegungen hielt Elath die Lampe hoch und winkte mit dem Arm nach hinten.
»Was ist los?« wisperte Sonja.
»Seht selbst, Kerker!«
Sie standen an der Schwelle zu den Verliesen. Unmittelbar vor ihnen befand sich hinter einer schweren Eisentür mit vergittertem Fenster ein langer Korridor. Dort reihten sich zu beiden Seiten Zellen – und die Stimmen kamen von Du-jums Soldaten, die vor den Gitterstäben standen und die Gefangenen dahinter verhöhnten.
»Wer immer auch dahinter eingesperrt ist, sie werden zweifellos unsere Partei ergreifen.«
»Wir wollen sie befreien?« fragte ein Soldat.
»Sobald diese kushitischen Esel sich entschließen, nach oben zum Frühstück zu gehen.«
Sonjas Trupp wartete zunächst hinter der Biegung ab und lauschte.
»Wie hast du gesagt, heißt du?« fragte ein Wärter den Gefangenen in der vordersten Zelle. Seinem gedehnten Tonfall und Akzent nach war er Darfarier. »Ich hatte mal einen Hund, den ich Kiros nannte. Sagtest du nicht, dein Name sei Kiros?«
»Du bist der Hund, das weißt du genau. Du-jums Hund. Mach die Tür auf, verdammt, dann bringe ich dich so schnell um, dass …«
»Du-jum wird dich foltern wie …«
»Halt’s Maul! Halt’s Maul, du Hund!«
Sonja seufzte. Sie lehnte sich an die Wand vor der Tür und flüsterte: »Sieht ganz so aus, als müssten wir noch eine Weile warten.«
Yarise verhöhnte inzwischen Omeron, der nackt, die Arme an die Wand gekettet, vor ihr hing. Die ebenfalls geketteten Füße berührten den Boden nicht.
»Und weißt du auch, was Du-jum und ich tun?« Sie leckte sich die Lippen und strich sinnlich mit beiden Händen über ihren Körper.
»Es ist mir völlig egal, Yarise. Du bist eine Hure – warst es schon immer. Jetzt bist du eben eines Zauberers Hure. Wo ist da der Unterschied?«
»Du-jum wird dich ganz langsam martern!«
»Aber gewiss nicht, weil ich seiner Hure die Wahrheit sagte!«
Yarise konnte ihre Wut nicht mehr beherrschen. Nach einer Waffe suchend, wirbelte sie herum und sah auf einem Tischchen eine Silberschale, die sie für geeignet hielt. Sie griff danach und holte zum Wurf aus. Omeron, der ihr in seinen Ketten nicht ausweichen konnte, zuckte zusammen. Die Schale flog geradewegs auf seinen ungeschützten Unterleib zu.
»Halt!« donnerte Du-jum.
Sofort änderte die Silberschale ihre Richtung, drehte sich wie ein Kreisel und schmetterte gegen die Wand.
Wütend schaute Yarise hoch. Omeron beobachtete den Hexer, der mit wallendem Gewand in das Gemach eilte.
»Geh jetzt, Yarise«, forderte Du-jum sie auf. »Lass deinen Ärger an irgendwelchen Sklavinnen aus. Ich möchte mich ungestört mit deinem … Gatten unterhalten.«
Yarise wollte nicht, dass Omeron merkte, welche Macht Du-jum über sie hatte, wagte es jedoch auch nicht, sich ihm zu widersetzen. So verzog sie das Gesicht höhnisch, spuckte ihren ehemaligen Gemahl an, machte eine unmissverständliche Geste und verließ das Gemach mit hocherhobenem Haupt.
Du-jum winkte. Ein schwerer Holzstuhl bewegte sich scharrend über den Boden und blieb einige Schritte vor Omeron entfernt stehen. Stöhnend setzte Du-jum sich darauf, wischte sich das Gesicht ab und blickte zu dem früheren Herrscher von Thesrad hoch.
»Sie ist eine Hexe«, sagte er seufzend. »Und ich meine damit nicht, dass sie einige Zauberkunststücke beherrscht, was sie zweifellos tut.«
»Eine Hure«, entgegnete Omeron kalt. »Hure ist das richtige Wort. Und sie hat auch die entsprechende Begabung. Doch vor allem, was Ihr ja inzwischen wissen müsstet, ist sie ein verzogenes, rachsüchtiges Balg!«
Du-jum lachte laut über diese treffende Bemerkung, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Wein. Ihr braucht ein bisschen Wein.« Er deutete auf einen Krug, der sofort von einem Tisch herbeischwebte. Doch Omeron schüttelte den Kopf.
»Keinen Wein für mich, ehe ich nicht wieder in Thesrad herrsche.«
»Ich verstehe.« Du-jums Stimme wurde kühler, und der Krug kehrte zu dem Tisch zurück. »Dann werdet Ihr lange warten, bis Ihr Euren Durst wieder stillen könnt.«
»Nur Vergeltung vermag meinen Durst zu stillen.«
»Was sonst? Omeron … Fürst … ich bewundere Euch. Ich achte Euch. Ihr habt gut gegen mich gekämpft, und Ihr seid alles andere denn ein Feigling. Ich möchte nur eines von Euch wissen. Wenn Ihr es mir sagt – jetzt oder etwas später –, werde ich Euch schmerzlos töten. Denn zu jenen, die mir zu Willen sind, bin ich gnädig.«
Omeron gönnte ihm keine Antwort.
»Ihr könnt selbst entscheiden, Fürst von Thesrad. Wollt Ihr einen raschen Tod, oder lange unerträgliche Qualen?«
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