»Dieser verdammte schwarze Hexer!« stöhnte ein junger Soldat.
Die Vögel stiegen wieder auf. Sie setzten ihre weiten Kreise um den Palast fort, und einigen tropfte Blut vom Schnabel und von den. Krallen.
»Verdammt! Verdammt!« brüllte der junge Soldat jetzt.
»Halt den Mund!« fuhr Sonja ihn an. »Du-jums Wachen können jeden Augenblick mit Verstärkung zurückkehren. Wir müssen zusehen, dass wir tiefer in den Palast gelangen, ehe …«
Da löste sich plötzlich aus einem der Büsche eine blutüberströmte Gestalt. Sonja hielt den Atem an. Einer ihrer Leute wollte auf den Blutenden zulaufen, doch ein anderer hielt ihn zurück. »Sinnlos«, brummte er. »Wir können jetzt nichts für ihn tun.«
Es war einer ihrer Kameraden, der hilflos das Schwert schwenkte und vorwärtstaumelte.
»Ich kann nichts sehen!« wimmerte er. »Ich kann nichts sehen! Sie haben mir die Augen ausgehackt!« Er stolperte über eine Wurzel und stürzte zu Boden. »Die Augen ausgehackt! Die Verdammnis auf Du-jum!«
»Wir müssen weiter …«, begann Sonja.
»Ja … die Verdammnis auf ihn!« schrillte der junge Soldat. Das Kreischen der Vögel wurde wieder lauter, und auch die Schreie am Vordereingang setzten mit neuer Stärke wieder ein; dazu blitzte und donnerte es mit Allgewalt, ohne dass ein Tropfen Regen fiel.
Sonja dachte an ihre überschwängliche Lebensfreude vor wenigen Augenblicken. Welch eine Torin sie gewesen war! Oder vielleicht doch nicht? Jetzt jedenfalls war sie wieder ganz Kriegerin, und sie würde diesem verfluchten Hexer zeigen, was in ihr steckte!
»Wir müssen weiter!« rief sie erneut.
»Und Omeron im Stich lassen?« schrie der junge Soldat mit sich überschlagender Stimme. »Nie!«
»Von hier aus können wir ihm nicht helfen!« antwortete Sonja. »Reiß dich zusammen, Mann!«
»Sie hat recht«, pflichtete ein anderer ihr bei.
»Kommt, solange der Weg frei ist«, drängte Sonja. »Dann …«
»Ich muss Lord Omeron helfen!« kreischte der junge Soldat.
»Sei doch vernünftig!« Ein Kamerad fasste ihn am Arm, doch der junge Mann riss sich los.
»Ich muss ihm helfen! Helfen!« Und schon sprang er um die herumliegenden Gefallenen und rannte durch die Büsche. »Omeron! Omeron!« schrie er.
Die Vögel, die näher gekommen waren, stießen wieder herab.
Als warteten sie auf die Stimme des Schicksals, hielten Sonja und ihre Leute einen Augenblick den Atem an. Dann erreichte der gellende Schrei des jungen Soldaten sie. Als er verstummte, atmeten sie erst wieder aus.
Sie zogen sich tiefer in den Eingang zurück›während die zweite Welle Vögel draußen vorbeiflog, in einer endlosen finsteren Reihe: Geier, Raben, Stare, Tauben, Sperlinge, Falken und ein Dutzend andere Arten, groß und klein, und das Rauschen ihrer Flügel übertönte fast das Donnern.
»Weiter!« zischte Sonja. Sie drehte sich um und schloss die Tür hinter ihnen allen.
Sie befanden sich in einer Kammer mit Wänden aus kahlem Stein, ohne Fenster, und nur eine einsame Öllampe erhellte sie spärlich. Wenige Schritte von der entfernt, durch die sie gekommen waren, befand sich eine zweite Tür. Sie war geschlossen und hatte ein vergittertes Fensterchen in Augenhöhe. Das Schwert einsatzbereit in der Hand, näherte sich Sonja und spähte hindurch.
»Eine Küche«, sagte sie. »Sie ist leer …«
»Da ist noch eine Tür«, stellte Elath fest und ging darauf zu. Er betrachtete ihren Verschluss, dann öffnete er sie vorsichtig. Aller Augen folgten seinem Blick.
»Dunkel«, sagte Elath, und ein dumpfes Echo seiner Stimme hallte zurück.
»Gebt ihm die Lampe«, befahl Sonja.
Sie wurde von der Wand gehoben und an Elath weitergegeben. Er hielt sie in der ausgestreckten Linken und rief über die Schulter: »Stufen! Sie führen abwärts. Mir sagt meine innere Stimme, dass wir diesen Weg nehmen sollten, Rote Sonja.«
»Natürlich wählt ein Zauberer den dunkleren Weg«, brummte Sonja. »Aber nehmen wir ihn. Zumindest sind wir da nicht so leicht allen Blicken ausgesetzt, wie wir es in der Küche wären. Wir können ungestört Ausschau nach Gängen halten – vielleicht etwas hören, das uns hilft – und aus einer unerwarteten Richtung angreifen.«
Gedämpfte Stimmen pflichteten ihr bei. Elath ging mit der Lampe voraus und ermahnte die anderen, ihm vorsichtig zu folgen. Sonja blieb noch kurz an dem vergitterten Fensterchen stehen, als könnte etwas dahinter ihr verraten, was aus Omeron und seinen Leuten am Haupteingang geworden war.
Doch das einzige, was sie sah, war die Tür an der gegenüberliegenden Küchenseite, die sich soeben öffnete.
»Schnell, Sonja!« drängte eine heisere Stimme von der Treppe.
Doch sie konnte sich noch nicht losreißen. Sechs Personen hatten die Küche betreten: sechs Männer, alle in langen schwarzen Gewändern. Irgendwie spürte sie sofort, dass sie sich dem übersinnlichen verschrieben hatten, dass sie einem magischen Kult angehörten. Ihre Nasenflügel blähten sich, und sie knirschte mit den Zähnen.
Eine leise Stimme sagte: »Hier herein, Brüder, fort von dem Blut. Wir müssen uns ungestört besprechen und unsere eigene Entscheidung treffen.«
»Ja, ja«, pflichteten die anderen ihm bei.
»Sonja!« drängte der Soldat an der obersten Stufe.
Sie wandte sich von dem Gitterfenster ab und huschte zur Treppe. So lautlos wie möglich schloss sie die schwere Tür hinter sich.
»Was war denn? Was habt Ihr gesehen, Sonja?«
»Noch mehr Hexer«, antwortete sie seufzend. »Gleich sechs!«
»Mitra!« fluchte der Soldat. Sonja, die in diesem Augenblick Elaths Gesicht im Lampenschein sah, fand, dass es ungewöhnlich angespannt, ja bedrückt aussah.
Doch ohne ein weiteres Wort stiegen sie vorsichtig die Stufen hinunter, immer tiefer. Die hinteren tasteten sich mit einer Hand an der klammen Wand weiter. Elath, der immer noch mit der Lampe vorausging, bot in ihrem flackernden orangen Schein ein schattenhaft unwirkliches Bild, während sie hinunterstiegen zu den modrigen unterirdischen Gängen.
Von den hundertzweiundfünfzig Mann von Omerons Sturmtrupp, die auf der Freitreppe und vor dem Eingang gegen Du-jums Soldaten und seine fliegende Armee von Vögeln gekämpft hatten, lebten nur noch dreiundsechzig. Und davon hatten vierundzwanzig so schwere Verletzungen, dass sie nicht mehr ohne Hilfe zurechtkamen. Augen, Ohren und Nasen waren blutig gehackt; aus den Beinen, Armen und dem Hals strömte Blut von Schnabel- und Krallenwunden.
Nachdem Du-jum seine Vogelarmee zurückgepfiffen und den schwarzen geschnitzten Vogel zurück an die Halskette gehängt hatte, befahl er seinen Soldaten, die Überlebenden in die große Vorhalle zu treiben. Dort wurden die Gefangenen in Gruppen zusammengestellt und die Schwerverwundeten in eine Ecke geschoben.
Von der untersten Stufe der Treppe zum Thronsaal aus ließ Du-jum seinen Blick über alle schweifen, dann deutete er auf die Verwundeten. »Tötet sie!« wies er seine Leute an. »Und fangt ihr Blut für den Urmutempel auf. Die anderen schafft ihr in den Thronsaal und bindet sie nackt in Ketten. Sie kommen uns für unser Fest heute Abend gerade gelegen.«
Er wandte sich an Yarise, die zitternd neben ihm stand. »Du wolltest doch ein Fest, nicht wahr? Und als Unterhaltung lehrreiche Folterungen für unsere thesradischen Gäste? Du sollst es haben. Schick gleich Diener mit Einladungen an die Edlen.«
»Ja, Liebster, ja, ja«, antwortete sie atemlos, doch ohne ihn anzusehen. Ihr Blick wanderte suchend über die blutigen Gefangenen.
Du-jum betrachtete sie. »Hältst du Ausschau nach Omeron?« fragte er sie flüsternd.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm hoch. »Ist er … ist er unter ihnen?« Aus ihren Lippen war jede Farbe gewichen.
Ein freudloses Lächeln huschte über Du-jums Lippen. Er schaute auf, ließ den Blick über die Gefangenen schweifen, dann deutete er in Richtung der Männer. »Bringt Lord Omeron herbei.«
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