Der unterirdische Marsch begann. Sonja, die Omeron folgte, blickte auf seinen breiten Rücken, das lange helle Haar, das immer wieder schimmerte, wenn Fackelschein darauf fiel. Vielleicht, dachte sie, ist dies aber doch der letzte Ausweg, den er kennt.
Du-jum erwachte, umgeben von Schweigen und Sonnenschein, und hatte das Gefühl, dass sich mehrere Leute in seinem Gemach aufhielten. Als er voll wach war und auch seine Kräfte zurückgekehrt waren, erinnerte er sich, was geschehen war. Sofort setzte er sich auf, schwang die Beine über den Bettrand und starrte auf die sieben Gestalten in den dunklen Umhängen, die geduldig und unbewegt an einer Wand standen.
»Ich danke euch, Brüder der Magie.«
Alle verneigten sich gleichzeitig.
»Euer Eingreifen erfolgte genau zum richtigen Zeitpunkt. Eure Kräfte unterstützten meine.«
»Wir sieben zusammen waren nur so stark wie Ihr allein, Lord Du-jum. Und das auch bloß, weil Ihr bereits geschwächt wart.«
»Wie heißt ihr?«
»Aspre, Lord Du-jum.«
»Ich habe den Namen noch nie gehört.«
»Ich bin noch neu in der Magie, wie wir alle hier. Wir kamen nach Thesrad, weil wir Euch um Unterweisung und Rat bitten wollten.«
»Beides sollt ihr haben, jeder einzelne von euch, als Dank für das, was ihr für mich getan habt.«
Nun wandte er sich Yarise zu, die mit verkrampften Händen, die Augen voll Furcht und Zweifel, in einer Ecke stand. Er sprach nicht, sondern ließ nur kurz den Blick auf ihr ruhen. Als die Kraft dieser Augen zuviel für sie wurden, platzte sie heraus: »Ich tat, was ich konnte, mein Lord!«
Hart, mit einem Ton kalten Verstehens, antwortete er: »Das weiß ich.«
»Ich habe getan, was ich konnte!« wiederholte sie. »Wirklich! Das Ungeheuer war zu mächtig! Du bist zu mächtig!«
Du-jums Blick wanderte von ihr zu den sieben. »Ihr müsst mich jetzt allein lassen. Ich möchte mich noch ein wenig ausruhen, dann werde ich den Tempel Urmus besuchen und ein Opfer darbringen. Folgt den Wachen – sie werden euch Gemächer anweisen. Betrachtet euch als meine Gäste, meine Studenten und Akoluthen.«
Wieder verneigten sich alle gleichzeitig. Mit raschelnden Umhängen verließen sie das Gemach im Gänsemarsch. Yarises Schluchzen und Wimmern folgte ihnen.
»Geh auch du jetzt, Yarise. Ich will noch schlafen.«
Aber sie schluchzte noch mehr, rannte zu ihm, warf sich auf das Bett und schmiegte sich an ihn. Sie küsste und streichelte ihn, hielt ihn ganz fest – so sehr bewusst war ihr, dass er ihr fast genommen worden wäre.
»Ich liebe dich, ich liebe dich! Ich will dich nicht verlieren!«
»Ruhig, Yarise, ruhig! Jetzt ist alles gut! Wir kennen unsere Feinde und werden sie besiegen. Ruh dich aus, Yarise. Ich werde schlafen, und du wirst schlafen. Ruhig. Alles ist gut, meine Liebste.«
In ihm flammte die Glut eines alten Feuers neu auf, und er fand keine echte Ruhe. Yarise fiel neben ihm in einen unruhigen Schlaf.
Als ihre Fackeln fast niedergebrannt waren, erreichten sie das Ende des Geheimgangs. Omeron, der sich nach vorn begeben hatte, mit Sadhur an seiner Seite, war nunmehr der vorderste und stand vor einer schweren Gittertür, deren Angeln an einer Seitenwand befestigt waren.
»Löscht alle Fackeln!« rief Omeron über die Schulter. »Außer einer, die ihr zu mir bringt.«
Der Soldat, der ihm am nächsten war, leuchtete ihm mit der gewünschten Fackel.
»Sadhur …«, sagte Omeron.
»Ich bin hier, Lord.«
Im Fackellicht betrachtete Omeron die Tür genau, dann nahm er dem Soldaten die Fackel aus der Hand und versuchte, durch das enge Gitter zu spähen.
»Genau wie ich vermutete«, murmelte er. »Der Gang führt zum Haupttunnel der Kanalisation. Wir müssen zusehen, dass wir die Tür aufkriegen, dann können wir feststellen, wo wir genau sind.«
Sadhur kam herbei. Sorgfältig tastete er die Tür ab und begutachtete die Stärke der Angeln. Sie waren völlig durchgerostet, so dass die Tür sich in den Stein gedrückt hatte.
Mit einem Ächzen zog und schob Sadhur an den Gitterstäben und versuchte sie zu drehen. Omeron erbot sich, ihm zu helfen, doch sein riesenhafter Offizier schien es gar nicht zu bemerken. Die Männer drängten sich näher herbei und lauschten angespannt, während Sadhur an der Tür arbeitete.
Knarrend und scharrend gab sie endlich nach. Stücke verrosteten Metalls klapperten auf den Boden.
Die mächtigen Pranken immer noch um die Gitterstäbe geklammert, trat Sadhur vorwärts, wobei er die Tür vor sich hertrug, duckte sich und sprang in die Kanalisation. Er landete auf einem Ziegelgang, machte einen Schritt zur Seite und lehnte die Tür an die Wand.
In der Kanalisation war es nicht völlig dunkel. Es herrschte ein’ graues Zwielicht, dazu ein übel riechender Dunst, den Licht von der Straße erhellte, das durch die in regelmäßigen Abständen an der Decke verteilten Gitterroste fiel. Der Gestank war überwältigend.
Einer nach dem anderen sprangen die Männer auf den schmalen Ziegelgang hinunter, und als ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkten sie die schmalen Stege über dem Abwasser und kleine Inseln aus Ziegeln und Naturstein im Kanal. Sie sammelten sich, verfluchten den Gestank und die Nager und Schlangen, die an ihnen vorbeihasteten oder ins graue Wasser sprangen oder glitten.
Omeron stand dicht an der Wand und wartete, bis alle seine Männer sich auf dem Ziegelgang geschart hatten. Er blickte hoch zum nächsten Gitterrost.
»Wir warten die paar Stunden, bis es dunkel wird«, sagte er, »dann steigen wir in die Stadt hoch. Inzwischen suchen wir nach weiteren Ausstiegen, möglichst in Hintergassen, wo man uns nicht bemerkt.«
Sonja war die letzte, die aus dem Geheimgang kam. Sie sagte nichts, sondern schaute sich lediglich um. Hier war Lord Omeron der Führer. Den Gestank fand sie kaum schlimmer als die modrig-stickige und rauchige Luft des Gangs. Obwohl sie sich nicht zum ersten Mal in einem Kanalisationsnetz befand, empfand sie Unbehagen in diesem Halbdunkel, dem ekelerregenden Gestank und der klammen Luft. Der Kampf gegen den Riesenvogel an einem windigen Berghang hatte ihr nichts ausgemacht, genauso wenig wie der Ritt durch den Wald. Und vor einem Kampf war sie noch nie zurückgeschreckt. Aber dieser Marsch durch den Geheimgang hatte begonnen an ihren Nerven zu zerren. Und nun, versteckt wie eine Ratte unter anderen Ratten in einer Falle, in dieser übelkeitverursachenden Unterwelt der Kanalisation, spürte sie den ganzen Druck ‚ihrer gefährlichen Lage. Und schuld daran, dass sie sich wie Tiere mit Ratten und Schlangen in der Kanalisation verkriechen, mussten, war Du-jum, der Hexer; und das wiederum spornte Sonja an, alles was sie konnte zu seiner Vernichtung zu tun.
Am Spätnachmittag verließ Du-jum den Palast in Begleitung von fünfzig Soldaten und begab sich zum alten, lange Zeit zweckentfremdeten Tempel Urmus, des Geiers. Als Anhänger trug er wieder seinen geschnitzten Vogel an der Brust. Er hatte kein eigenes Leben, keine Intelligenz, weder Macht noch Kraft. All das würde er nur haben, wenn Du-jum es so wollte.
Am Tempel begutachtete er den Fortschritt des Neuaufbaus. Die Leichen waren aus dem Innern entfernt worden und sollten später als Opfergaben benutzt werden. Das Ächzen und Stöhnen der Thesrader Bürger, die unter den Peitschen seiner Soldaten beim Bau mithalfen, klang in Du-jums Ohr wie ein finsterer Lobgesang.
Du-jum sah ihnen zu, seine schweigenden Wachen um sich geschart. Wenn ihn stumme, erbitterte Blicke trafen, begegnete er dem Hass in ihnen ungerührt, winkte jedoch einem Wächter zu, damit er sofort mit voller Strenge die Peitsche einsetze.
Als die Sonne unterging, betete er um die Kraft, sein großes Werk zu vollenden und sein hohes Ziel zu erreichen. Danach erteilte er den Befehl, alle, die zu schwach für weitere Arbeit waren, Urmu zu opfern.
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