Mike riss sich von dem schrecklichen Anblick los und raste die Wendeltreppe zum Salon hinunter. Die Metallstufen bebten unter seinen Füßen. Das Schiff zitterte unter der Kraft der Wellen, die gegen seinen Rumpf klatschten, aber er spürte auch einen zweiten, gleichmäßigen Rhythmus. Trautman hatte die Gefahr wohl ebenfalls bemerkt und die Motoren gestartet.
Auch im Salon herrschte helle Aufregung, als Mike und Serena hereinstürzten. Trautman hantierte hektisch und mit verbissenem Gesicht an den Kontrollinstrumenten und Singh, Ben, Chris und Juan standen vor dem großen Aussichtsfenster und sahen dem Drama zu, das sich außerhalb der NAUTILUS anbahnte. Der Himmel über dem Meer war verschwunden, alles war grau und tobend; ein einziges, apokalyptisches Chaos.
Trautman sah hoch. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als er Serena und Mike sah. »Mein Gott!«, keuchte er. »Wart ihr etwa im Wasser?« »Uns ist nichts passiert«, sagte Mike rasch. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte sich einige üble Verbrühungen zugezogen und seine Augen brannten noch immer wie Feuer und er konnte nicht richtig sehen. Aber wenn das, was er befürchtete, tatsächlich wahr wurde, dann waren sie alle in höchster Gefahr.
»Wie lange noch?«, fragte er.
Trautman verstand sofort, was Mike meinte. »Mindestens noch zwei Minuten«, sagte er. Die neuen Maschinen, die die Atlanter eingebaut hatten, besaßen bei gesteigerter Leistung einen entscheidenden Nachteil: Sie mussten vier oder fünf Minuten warm laufen, ehe sich das Schiff auch nur in Bewegung setzen konnte.
»Was ... was geschieht denn hier überhaupt?«, murmelte Serena.
Trautman betätigte seine Instrumente, ehe er antwortete. Die Maschinen der NAUTILUS rumorten lauter, aber das Schiff weigerte sich, auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu rücken. Dafür schwankte es immer mehr auf den Wellen. »Ich fürchte, wir befinden uns mitten in einem Vulkanausbruch«, sagte Trautman. »Präzise ausgedrückt: genau darüber.« »Ein ... Vulkan?«, wiederholte Serena ungläubig. »Aber das Meer ist hier -«
»Zweitausend Meter tief«, unterbrach sie Trautman. Seine Stimme klang immer nervöser. »Und das ist wahrscheinlich der einzige Grund, aus dem wir noch leben.«
Er riss wieder an den Kontrollinstrumenten und diesmal setzte sich die NAUTILUS tatsächlich in Bewegung, wenn auch viel langsamer, als Mike lieb gewesen wäre.
»Gott sei Dank!«, seufzte Ben. »Jetzt aber nichts wie weg hier.«
»O verdammt«, murmelte Trautman plötzlich. Und dann schrie er: »Haltet euch fest! Da kommt etwas hoch!«
Mike sah erschrocken zu Trautman zurück, dann wieder zum Fenster. Die NAUTILUS hatte Fahrt aufgenommen und wurde nun zusehends schneller, aber irgendetwas stimmte mit dem Meer nicht. Das Sprudeln der Millionen Blasen hatte aufgehört und auch die Wellen verebbten zusehends. Für einen Moment war die Wasseroberfläche fast unheimlich schnell und so glatt wie ein großer, türkisfarbener Spiegel. Dann explodierte sie.
Mike konnte regelrecht spüren, wie irgendetwas ungeheuer Großes aus der Tiefe des Ozeans emporstieg, und in der nächsten Sekunde wölbte sich das Wasser hinter der NAUTILUS schäumend hoch, hoch und immer noch höher, bis es zu einem regelrechten Berg angewachsen war, neben dem die NAUTILUS wie ein Spielzeug wirkte.
Was hinter der NAUTILUS durch die Wasseroberfläche brach, war keine Lava oder Feuer, sondern eine gewaltige, kochend heiße Dampfblase, die immer noch weiter und weiter wuchs und schließlich mit einem ungeheuerlichen Donnerschlag zerplatzte. Die NAUTILUS wurde davongewirbelt wie ein Blatt im Sturm, legte sich auf die Seite und drohte für einen schrecklichen Moment ganz zu kentern. Mike wurde ebenso wie alle anderen einfach von den Füßen gerissen und quer durch den Salon geschleudert. Glas zerbrach klirrend. Bücher stürzten aus den Regalen, Möbel fielen um und alle schrien vor Schmerz und Schrecken durcheinander. Die NAUTILUS begann sich wie ein Kreisel zu drehen und aus dem Motorengeräusch wurde ein gequältes Stampfen und Dröhnen. Mike hatte das Gefühl, dass das Schiff rings um ihn herum in Stücke brechen würde. Er versuchte vergeblich auf die Füße zu kommen, schlug ein zweites Mal der Länge nach hin und sah aus den Augenwinkeln, dass Trautman irgendwie das Kunststück fertig gebracht hatte, sich am Steuerpult in die Höhe zu ziehen. Mit einer fast verzweifelt wirkenden Bewegung stieß er den großen Beschleunigungshebel ganz nach vorne. Die Motoren der NAUTILUS brüllten auf. Das Schiff drehte sich noch immer wie ein Kreisel auf der kochenden Meeresoberfläche, aber Mike spürte auch, wie die mächtigen Maschinen endlich ihre ganze gewaltige Kraft entfalteten und das hundert Meter lange Tauchboot regelrecht von der Stelle katapultierten. Aus dem wilden Kreiseln wurde eine immer flacher werdende Spirale, bis sich die NAUTILUS schließlich in fast gerader Richtung von dem gewaltigen Sog entfernte, der hinter ihr entstanden war.
Mike arbeitete sich mühsam in die Höhe, kümmerte sich zuerst um Serena und überzeugte sich dann mit einem raschen Blick davon, dass auch alle anderen unverletzt geblieben waren. In dem großen Raum war so ziemlich alles von seinem Platz geschleudert und zerbrochen worden, was nicht niet-und nagelfest war, und auf den Gesichtern aller stand das blanke Entsetzen geschrieben.
Mike drehte sich wieder zum Fenster. Trautman ließ die Maschinen noch immer mit voller Kraft laufen, sodass sich die NAUTILUS zusehends von der Stelle entfernte, an der der unterseeische Vulkan ausgebrochen war. Das Wasser kochte und sprudelte noch immer. Mike konnte keinen Feuerschein entdecken, aber die Hitze des Vulkans, der zweitausend Meter unter dem Meeresspiegel ausgebrochen war, verwandelte das Wasser schlagartig in Dampf, der in riesigen Blasen aufstieg und die Meeresoberfläche in einer nicht enden wollenden Kette gewaltiger Explosionen zerriss. Sie waren schon Meilen vom Ort des Geschehens entfernt und trotzdem zitterte und wankte die NAUTILUS noch immer heftig. Mike wagte sich nicht einmal vorzustellen, was geschehen wäre, hätte sich die NAUTILUS unmittelbar im Zentrum der Dampfexplosion befunden.
Er schien nicht der Einzige zu sein, dessen Gedanken sich in dieser Richtung bewegten. »Puh«, machte Ben. »Das war verdammt knapp ... Ein bisschen zu knapp für meinen Geschmack«, fügte er mit einem schrägen Blick in Trautmans Richtung hinzu. »Für meinen auch«, antwortete Trautman. Aber dann zwang er sich zu einem Lächeln, seufzte hörbar erleichtert und sagte: »Aber es ist vorbei.«
Er hatte das letzte Wort noch nicht einmal ganz ausgesprochen, als der Horizont vor ihnen in einem grellen weißen Lichtblitz explodierte.
Die Insel bot einen Anblick der Verwüstung. Jedenfalls nahm Mike an, dass es einmal eine Insel gewesen war. Ganz sicher war er nicht. Was sich ungefähr eine Seemeile vor der NAUTILUS aus dem Meer erhob, das erinnerte eher an einen gigantischen Mohrenkopf, aus dem ein Riese ein gewaltiges Stück herausgebissen hatte. Der Berg war regelrecht halbiert. Wenn er jemals einen Krater gehabt hatte, so war er nun verschwunden; der Gipfel und die südliche Hälfte des Berges waren regelrecht weggesprengt, sodass sein Inneres bloß lag. Mike gewahrte rauchenden Stein und poröse Lava, zwischen der es hier und da noch immer dunkelrot glühte. So wie der Berg war auch die südliche Hälfte der gesamten Insel verschwunden. Geblieben war ein zerbrochener Ring aus Riffen und dampfender Lava, der sich bereitsmit Wasser gefüllt hatte. Über diesem auf gewaltsame Weise entstandenen Atoll lag noch immer eine dicke Nebelbank aus Dampf und über dieser wiederum brodelte eine braunschwarze Wolkendecke, die nur ganz allmählich auseinander trieb. Mike hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber er schätzte, dass seit der Explosion mindestens eine Stunde vergangen war. Trotzdem roch die Luft noch immer verbrannt und der Wind, der ihnen in die Gesichter blies, war unangenehm warm.
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