Rincewind beobachtete, daß die Hand mit dem silbernen Stab zitterte. Sie konnte es sich leisten: Die Entfernung betrug nur etwa zwei Meter, und der Tod in Form völliger Negativität hätte den Zauberer kaum verfehlt. Doch das Zittern bot ihm einen Hinweis, die zum Fundament einer seltsamen Erkenntnis wurde: Jemand auf der Scheibenwelt fürchtete sich vor ihm. Das genaue Gegenteil war so häufig der Fall, daß Rincewind eine Art Naturgesetz darin gesehen hatte.
»Wie heißt du?« fragte er möglichst ruhig. Das Mädchen fürchtete sich, aber es besaß den Stab. Mit einer solchen Waffe würde ich mich vor nichts fürchten, dachte Rincewind. Bei der Schöpfung: Warum hat es Angst vor mir?
»Mein Name ist nebensächlich«, lautete die Antwort.
»Ein hübscher Name«, sagte Rincewind. »Wohin bringt ihr uns? Und warum? Sicher setzt du dich keinen Gefahren aus, indem du Auskunft gibst.«
»Wir bringen euch nach Krull«, erwiderte das Mädchen. »Und verspotte mich nicht, Mittländer. Sonst bekommst du den Stab zu spüren. Du sollst das Ziel lebend erreichen, aber niemand hat mir befohlen, dich in einem Stück abzuliefern. Ich heiße Marchesa und bin Magierin der fünften Stufe. Verstehst du?«
»Nun, da du alles über mich weißt, dürfte dir auch klar sein, daß ich es nicht einmal bis zum Neophyten geschafft habe«, entgegnete Rincewind. »Eigentlich bin ich überhaupt kein richtiger Zauberer.« Als er Zweiblums überraschten Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu. »Nur eine Art Zauberer.«
»Du kannst keine Magie beschwören, weil sich einer der Acht Großen Zaubersprüche in deinem Gedächtnis festgesetzt hat«, sagte Marchesa und verlagerte geschickt ihr Gewicht, als die große Linse in einem weiten Bogen übers Meer flog. »Deshalb hat man dich aus der Unsichtbaren Universität verstoßen. Wir wissen Bescheid.«
»Vorhin hast du ihn als schlauen und unerschrockenen Magier bezeichnet«, protestierte der Tourist.
»Ja«, bestätigte Marchesa, »wer das alles überlebt, was er überlebt hat — meistens gerät er nur deshalb in Schwierigkeiten, weil er sich für einen Zauberer hält —, muß zu einer gewissen Magie fähig sein. Ich warne dich, Rincewind. Wenn ich den Verdacht habe, daß du den Großen Zauber-spruch intonierst, bringe ich dich auf der Stelle um.« Sie starrte ihn nervös an.
»Vielleicht solltest du uns einfach irgendwo, äh, absetzen«, schlug Rincewind vor. »Ich meine, danke dafür, daß ihr uns gerettet habt und so. Wenn du uns jetzt die Möglichkeit gibst, in die Freiheit zurückzukehren, so wären wir alle.«
»Du hast hoffentlich nicht vor, uns zu versklaven«, warf Zweiblum ein.
Marchesa sah ihn schockiert an. »Natürlich nicht! Wie kommst du darauf? In Krull erwartet euch ein bequemes Leben in Wohlstand.«
»Gut«, kommentierte Rincewind.
». wenn auch kein besonders langes.«
•
Krull erwies sich als große Insel mit hohen Bergen und weiten Wäldern. Hier und dort standen hübsche weiße Gebäude zwischen den Bäumen. Das Land stieg randwärts an, was bedeutete, daß der höchste Punkt von Krull über die Kante der Scheibenwelt hinausragte. Dort hatten die Krul-lianer ihre größte Stadt errichtet, die ebenfalls Krull hieß. Da das meiste Baumaterial in Form von Bergungsgut aus den Bereichen des Umzauns stammte, zeichneten sich die Häuser von Krull durch ein deutlich nautisches Erscheinungsbild aus.
Anders ausgedrückt: Ganze Schiffe waren kunstvoll miteinander verbunden und in Gebäude verwandelt worden. Trieren, Dauen und Kara-vellen wuchsen in seltsamen Winkeln aus dem allgemeinen hölzernen Chaos. Bunt bemalte Galionsfiguren und mittländische Drachenbuge erinnerten die Bürger von Krull daran, daß ihr Reichtum aus dem Meer kam. Schoner und Galeonen fügten den größeren Bauwerken ein eigentümliches maritimes Flair hinzu. Und so erhob sich die Stadt Etage um Etage zwischen dem blaugrünen Ozean der Scheibenwelt und dem faserigen Wolkenmeer des Rands. Die acht Farben des Randbogens spiegelten sich nicht nur an den Fenstern wider, sondern auch in den Linsen der vielen Teleskope, die den zahllosen Astronomen der Stadt gehörten.
»Sieht furchtbar aus«, brummte Rincewind niedergeschlagen.
Der Flieger schwebte nun über den schaumigen Anfang des Wasserfalls. Die Insel wurde zum Rand hin nicht nur höher, sondern auch schmaler, so daß die durchsichtige Scheibe bis in unmittelbarer Nähe der Stadt über dem Wasser bleiben konnte. Vom Geländer an der randwärti-gen Klippe gingen Rampen aus, die ins Nichts reichten. Die Scheibe glitt auf eine zu und legte an, wie ein Boot an einer Mole. Vier Wächter warteten dort; wie Marchesa hatten sie Mondscheinhaar und nachtschwarze Haut. Sie schienen nicht bewaffnet zu sein, aber als Zweiblum und Rin-cewind auf den Steg traten, griffen sie sofort nach ihren Armen und hielten die beiden Männer so fest, daß jeder Fluchtversuch aussichtslos erschien.
Die Wächter führten ihre Gefangenen über eine Straße, die sich zwischen den Schiffshäusern dahinwand — Marchesa und die magischen Hydrophoben blieben hinter ihnen zurück. Kurze Zeit später neigte sich der Weg nach unten und endete an einem Palast, der halb aus dem Gestein der Klippe gemeißelt war. Rincewind sah hellerleuchtete Tunnel und offene Höfe. Einige ältere Männer, die Umhänge mit geheimnisvollen okkulten Symbolen trugen, wichen beiseite und blickten den vier Wächtern und ihren beiden Begleitern neugierig hinterher. Mehrmals bemerkte Rincewind Hydrophoben — in ihren Gesichtern kam deutlich der Abscheu den eigenen Körperflüssigkeiten gegenüber zum Ausdruck —, und gelegentlich begegneten sie schlurfenden Männern, bei denen es sich vermutlich um Sklaven handelte. Der Zauberer bekam kaum Gelegenheit, um über seine Beobachtungen nachzudenken. Schon nach kurzer Zeit öffnete sich eine Tür vor ihnen und sanft, aber fest schob man die beiden Gefangenen in ein Zimmer. Hinter ihnen schloß sich der Zugang wieder.
Rincewind und Zweiblum taumelten kurz, blieben stehen und sahen sich in dem Raum um.
Zweiblum suchte einige Sekunden lang nach einem passenden Wort und beschränkte sich dann auf ein erstauntes »Potzblitz!«
»Dies soll eine Kerkerzelle sein?« dachte Rincewind laut.
»Soviel Gold und Seide und so«, hauchte Zweiblum. »Derartigen Luxus habe ich hier nicht erwartet!«
In der Mitte des üppig geschmückten Zimmers — auf einem so dicken und flauschigen Teppich, daß Rincewind zunächst glaubte, über den Rücken eines zottigen Tiers zu gehen — stand ein langer glänzender Tisch mit Speisen. Es waren überwiegend Fischgerichte, darunter der größte und prächtigste Hummer, den Rincewind je gesehen hatte. Hinzu kamen Schüsseln und Teller mit überaus seltsamen kulinarischen Kreationen. Er streckte die Hand aus und griff vorsichtig nach einer purpurnen Frucht mit einer Kruste aus grünen Kristallen.
»Kandierter Seeigel«, erklang eine krächzende fröhliche Stimme hinter ihm. »Eine wahre Delikatesse.«
Rincewind ließ den angeblichen Leckerbissen fallen und drehte sich um. Ein alter Mann stand nun neben den langen Vorhängen. Er war groß und hager, und im Vergleich zu den anderen Gesichtern, die der Zauberer unterwegs betrachtet hatte, wirkte er fast freundlich und gutmütig.
»Das Püree aus Seegurken ist ebenfalls köstlich«, sagte der Fremde im Plauderton. »Die kleinen grünen Brocken dort sind junge Seesterne.«
»Danke für den Hinweis«, brachte Rincewind hervor.
»Schmecken wirklich ausgezeichnet«, meinte Zweiblum mit vollem Mund. »Magst du keine Meeresfrüchte?«
»Kommt darauf an«, erwiderte Rincewind. »Was ist mit diesem Wein? Besteht er aus zerdrückten Tintenfischaugen?«
»Aus Seetrauben«, erklärte der Alte.
»Großartig.« Rincewind trank einen Schluck. »Gar nicht übel. Nur ein bißchen salzig.«
Читать дальше