Der Kobold nickte und verschwand in den Tiefen des Ikonographen. Kurze Zeit später roch Rincewind bratenden Schinken. Er wartete, bis es sein Magen einfach nicht mehr aushielt und klopfte dann an den Bildkasten. Der Homunkulus öffnete die kleine Tür.
»Ich habe über deinen Hinweis nachgedacht«, sagte das winzige Wesen, bevor der Zauberer den Mund öffnen konnte. »Selbst wenn es möglich wäre, ihnen Geschirre anzulegen — wie soll man sie dazu bringen, einen Karren zu ziehen?«
»Was? Wovon redest du da?«
»Blitze. Sie zucken vom Himmel herab. Nach unten, um ganz genau zu sein. Aber wer will schon, daß man seinen Karren nach unten zieht? Außerdem: Wahrscheinlich würden sie sich durch die Riemen brennen.« »Blitze sind mir völlig schnuppe! Wie soll ich mit einem leeren Magen denken?«
»Ich habe immer angenommen, man denkt mit dem Kopf. Nun, vielleicht hilft es, wenn du etwas ißt.«
»Wie denn? Wenn ich mich bewege, spannt die verdammte Truhe ihre Mus. ihre Angeln.«
Die Kiste nahm diese Bemerkung zum Anlaß, den Deckel zu heben.
»Siehst du?«
»Keine Angst, sie will dich nicht beißen«, sagte der Kobold. »Sie möchte dir nur etwas zu essen geben. Verhungert nützt du ihr nichts.«
Rincewind spähte in die dunklen Tiefen der Truhe, und tatsächlich: In dem Durcheinander aus diversen Behältern und Goldbeuteln entdeckte er mehrere Flaschen und mit Ölpapier umwickelte Päckchen. Er lachte nervös, suchte auf der Mole, bis er ein genügend langes Stück Holz fand, rammte es so höflich wie möglich in die Lücke zwischen Klappe und Kiste, streckte dann rasch die Hand aus und griff nach einem der kleinen Pakete.
Es enthielt Kekse — so hart wie Diamantholz.
»Ferdammter Mift«, brummte der Zauberer und fürchtete, den einen oder anderen Zahn verloren zu haben.
»Kapitän Achtpanthers Roggenplätzchen«, sagte der Kobold. Er lehnte noch immer in der Tür des Bildkastens. »Sie haben vielen hungrigen Seeleuten das Leben gerettet, jawohl.«
»Oh, sicher. Benutzt man sie, um Flöße zu bauen? Oder wirft man sie den Haien vor — um anschließend zu beobachten, wie die Fische versinken? Was ist in den Flaschen? Gift?«
»Wasser.«
»Davon gibt's hier doch jede Menge. Warum hat Zweiblum Wasser mitgebracht?«
»Der Grund heißt mangelndes Vertrauen.«
»So wie Mißtrauen?«
»Ja, er meinte, es sei besser, das hiesige Wasser nicht zu trinken, verstehst du?«
Rincewind öffnete eine Flasche. Vielleicht bestand ihr Inhalt tatsächlich aus Wasser: Die Flüssigkeit schmeckte schal; ihr fehlten Aroma und Leben. »Fast völlig geschmack- und geruchlos«, brummte er.
Die Truhe knarrte leise und weckte seine Aufmerksamkeit. Ganz langsam und mit wohlüberlegter Drohung schloß sie den Deckel — Rince-winds improvisierter Keil zersplitterte wie ein trockenes Blatt.
»Na schön, in Ordnung«, sagte er. »Ich denke nach.«
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Ymors Hauptquartier befand sich im Schiefen Turm an der Ecke Rauhreifstraße und Frostgasse. Gegen Mitternacht lehnte ein einsamer Wächter an der dunklen, von Schatten umhüllten Mauer, sah zu den beiden Konjunktionsplaneten hinauf und fragte sich gelangweilt, was sie für seine Zukunft bedeuteten.
Ein leises, eigentlich unhörbares Geräusch ertönte. Es klang so, als gähne eine Mücke.
Der Wächter blickte über die leere Straße und sah einen Gegenstand, der einige Meter entfernt im Schlamm lag und den Mondschein widerspiegelte. Er hob ihn auf, und das Glühen am Himmel glänzte über Gold. Der Mann schnappte so laut nach Luft, daß man sein Keuchen noch einige Dutzend Meter entfernt hörte.
Das leise Geräusch wiederholte sich, und auf der anderen Straßenseite rollte eine zweite Münze in den Rinnstein.
Als der Wächter sie in der Hand hielt, lag schon eine dritte auf dem Pflaster und drehte sich noch. Gold, so erinnerte er sich, bestand angeblich aus kristallisiertem Sternenlicht. Bisher hatte er nicht daran geglaubt, daß Gold einfach so vom Himmel fiel.
Als er den Zugang der nahen Gasse erreichte, begegnete er noch mehr gelbem Metall. Es ruhte noch immer in einem Beutel und war ziemlich schwer — Rincewind zielte damit auf den Kopf des Mannes und traf.
Als der Wächter wieder zu sich kam, blickte er in das fratzenhafte Gesicht eines Zauberers, der seine Kehle mit einem Schwert bedrohte.
Darüber hinaus spürte er, daß ihn in der Dunkelheit etwas am Bein gepackt hatte.
Es handelte sich um jene Art von Griff, die ihm mitteilte, daß der Unbekannte noch weitaus fester zugreifen konnte, wenn er wollte.
»Wo ist er?« zischte der Zauberer. »Ich meine den reichen Fremden. Los, gib Auskunft!«
»Was hält mich am Bein fest?« fragte der Wächter, und die Stimme zitterte ihm vor unerklärlichem Entsetzen. Als er sich zu befreien versuchte, nahm der Druck zu.
»Die Antwort auf diese Frage gefiele dir nicht«, sagte Rincewind. »Wenn du jetzt so freundlich wärst, mir zuzuhören. Wo steckt der Fremde?«
»Er ist nicht hier! Man hat ihn zu Breitmann gebracht! Alle suchen nach ihm! Du bist Rincewind, nicht wahr? Die Truhe. Die beißende Kiste. Oneinoneinonein, bittebittebitte.«
Rincewind ging. Der Wächter fühlte, wie der verborgene Beingreifer seinen — beziehungsweise ihren, wie er befürchtete — Griff lockerte. Als er aufzustehen versuchte, stieß etwas Großes und Schweres und Kantiges gegen ihn, schleuderte ihn wieder zu Boden und folgte dem Zauberer. Eine Kiste. Und sie lief auf Hunderten von kleinen Füßen.
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Mit Hilfe seines selbst zusammengestellten Wörterbuchs bemühte sich Zweiblum, Breitmann in die Geheimnisse der Fähr-sicher-ungen einzuweihen. Der dicke Wirt hörte aufmerksam zu, und die kleinen dunklen Augen glitzerten.
Ymor saß auf der anderen Seite des Tisches, sah amüsiert zu und nahm gelegentlich einen Brocken vom Teller, um seine Raben zu füttern. Neben ihm wanderte Withel auf und ab.
»Beruhige dich«, sagte Ymor und hielt den Blick auf die beiden Männer ihm gegenüber gerichtet. »Hier sind wir sicher, Stren. Wer würde es wagen, uns hier anzugreifen? Und der Gossenzauberer kommt bestimmt. Er ist viel zu feige, um sich aus dem Staub zu machen. Er hofft vermut-lich, eine Übereinkunft mit uns treffen zu können. Und dann haben wir ihn. Und das Gold. Und die Truhe.«
In Withels einem Auge blitzte es. Er ballte die Faust, und der schwarze Handschuh knisterte leise. »Wer hätte gedacht, daß es soviel intelligentes Birnbaumholz auf der Scheibenwelt gibt?« stieß er hervor. »Die Sache gefällt mir nicht.«
»Reg dich ab, Stren!« Ymor grinste. »Es besteht kein Anlaß zur Sorge.«
Der zweitgrößte Dieb schnaubte abfällig und verließ das Zimmer, um seine Leute zu schikanieren. Ymor beobachtete weiterhin den Touristen.
Seltsam: Der kleine Kerl schien überhaupt nicht zu begreifen, in welcher Lage er sich befand. Ymor hatte mehrmals gesehen, wie er durchs Zimmer schritt und dabei sehr zufrieden wirkte. Schon seit einer halben Ewigkeit sprach er mit Breitmann, und nun wechselte ein Zettel den Besitzer — woraufhin der Wirt dem Fremden einige Münzen gab. Höchst sonderbar.
Als Breitmann aufstand und an Ymors Stuhl vorbeiwatschelte, schoß der Arm des Diebesherrn wie eine Stahlfeder vor und hielt den Dicken an der Schürze fest.
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Ymor leise.
»N-nichts weiter. Eine private Angelegenheit.«
»Freunde sollten keine Geheimnisse voreinander haben, Breitmann.«
»Ja, äh, nun, eigentlich bin ich selbst nicht ganz sicher«, erwiderte der Wirt nervös. »Es ist eine Art Wette. Man nennt so etwas Fähr-sicher-ungen. Wir haben, äh, gewettet, daß die Gebrochene Trommel nicht niederbrennt.«
Ymor hielt den Blick des Dicken fest, bis Breitmann aus Furcht und Verlegenheit zu zittern begann. Dann lachte der Diebesherr.
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