»Es ist nur eine uralte Bildschrift«, warf Rincewind hastig ein. »Hab ein wenig Geduld; gleich folgen andere Zeichen. Weißt du, die Zaubersprü-
che können sich in jeder beliebigen Sprache mitteilen.«
»Erinnerst du dich daran, was du gesagt hast, als die falsche Farbe erschien?«
Mit der Kuppe des Zeigefingers strich er über die Seite.
»Ich glaube, es war diese Stelle. Wo die zweiköpfige Echse gerade…
Nun, ich glaube, es erübrigt sich eine Beschreibung.«
Zweiblum trat neben ihn, als die Piktogramme anderen Symbolen wichen.
»Wie spricht man das aus?« fragte Bethan verwirrt. »Schnörkel, Schnörkel, Punkt, Strich.«
»Das sind cupumugukische Schneerunen«, stellte Rincewind fest. »Ich nehme an, es sol ›zph‹ heißen.«
»Aber da hast du dich vermutlich geirrt. Wie wär’s mit ›sph‹?«
Sie betrachteten das Wort. Der braune Fleck weigerte sich hartnäckig, die Farbe zu wechseln.
»Oder ›sff‹?« meinte Bethan.
»Möglicherweise auch ›tsff‹«, fügte Rincewind in einem zweifelnden Tonfal hinzu. Die schmutzig aussehende Stel e im bunten Wal en wurde noch dunkler.
»Und ›zsff‹?« warf Zweiblum hilfsbereit ein.
»So ein Quatsch«, brummte Rincewind. »Ich kenne mich mit Schneerunen bestens…«
Bethan stieß ihm den Ellenbogen in die Seite und streckte die Hand aus.
Das braune Wort glänzte nun in einem dunklen Rot.
Das Buch erzitterte in Bethans Händen. Rincewind schlang der jungen Frau den Arm um die Taille, packte Zweiblum am Kragen und sprang zurück.
Das Oktav rutschte aus Bethans Händen und fiel dem Boden entgegen. Aber es erreichte ihn nicht.
Die Luft in unmittelbarer Nähe des Oktavs glühte. Das Buch stieg langsam auf, und die Blätter schlugen wie Schwingen.
Irgend etwas rauschte, zischte und fauchte, gefolgt von einem dishar-monischen Klimpern, das sich kurz darauf in eine exotische Blume aus Licht verwandelte. Der weit geöffnete Kelch wuchs in den roten Himmel, verblaßte und löste sich auf.
Stille herrschte.
Doch weit oben, jenseits der Scheibenwelt, bahnte sich ein ganz besonderes Ereignis an…
In den geologischen Tiefen von Groß-A'Tuins gewaltigem Hirn glitten Gedanken über das Synapsenpflaster neuraler Al en, die sich mit breiten Durchgangsstraßen vergleichen ließen. Eine Sternenschildkröte war na-türlich nicht imstande, ihren Gesichtsausdruck zu verändern, aber auf irgendeine seltsame Weise wirkte ihre von Meteoriten zernarbte Miene ausgesprochen erwartungsvol .
Ihr (oder sein) starrer Blick galt den acht Kugeln, die den roten Stern am Strand des Universums umkreisten.
Sie brachen langsam auseinander.
Riesige Felsformationen lösten sich und fielen in einer langen spiralförmigen Bahn der scharlachfarbenen Sonne entgegen. Der Himmel füllte sich mit Planetenscherben.
Eine kleine Sternenschildkröte kroch zwischen den Trümmern eines Satelliten hervor und streckte ihre paddelförmigen Beine. Sie war kaum größer als ein mittlerer Asteroid, und auf dem Panzer glänzten noch einige Eigelbreste.
Auf ihrem Rücken standen vier Elefantenkälber. Und sie trugen eine kleine Scheibenwelt, eingehüllt in den Rauch urzeitlicher Vulkane.
Groß-A'Tuin wartete, bis sich die acht Babyschildkröten ganz aus ihren Planeteneiern befreit hatten und staunend durch den Kosmos wanderten. Dann drehte sie (oder er) sich um, ganz vorsichtig, um die Meere und Seen ihrer Scheibenwelt nicht über die Ufer schwappen zu lassen.
Mit nicht unerheblicher Erleichterung kehrte sie (oder er) in die angenehm kühlen Tiefen des Raums zurück.
Die jungen Himmelsschildkröten folgten und umkreisten ihre Mutter (beziehungsweise den Vater).
Zweiblum lag rücklings auf dem Boden und starrte entzückt gen Himmel. Vermutlich genoß er von al en Bewohnern der Scheibenwelt die beste Aussicht.
Kurz darauf fiel ihm etwas ein.
»Wo ist das Ikonoskop?« fragte er erschrocken.
»Was?« erwiderte Rincewind und wandte den Blick nicht vom Firmament ab.
»Das Ikonoskop«, erklärte Zweiblum. »Mein Fotoapparat. Ich muß unbedingt eine Aufnahme davon machen!«
»Kannst du dir den Anblick nicht einfach ins Gedächtnis einprägen?« frage Bethan.
»Vielleicht vergesse ich ihn.«
»Nun, ich werde mich noch daran erinnern, wenn ich tot bin«, behauptete die junge Frau begeistert. »So etwas Herrliches habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Viel besser als Tauben und Billardkugeln«, bestätigte Cohen. »Das muß ich dir lassen, Rincewind. Welcher Trick steckt dahinter?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Zauberer.
»Der Stern wird kleiner«, verkündete Bethan.
Wie aus weiter Ferne hörte Rincewind Zweiblums Stimme, die sich mit dem kleinen Dämon im Bildkasten stritt. Es handelte sich um eine technische Diskussion, bei der es unter anderem um Tiefenschärfe und die nicht ganz unwichtige Frage ging, ob dem verdrießlichen Pinselschwinger noch genug rote Farbe zur Verfügung stand.
An dieser Stelle sol te darauf hingewiesen werden, daß Groß-A'Tuin sehr glücklich und zufrieden war, und wenn sich solche Gefühle in einem Gehirn von den Ausmaßen mehrerer großer Städte bilden, kommt es zu gewissen Emissionen. Was nicht ohne Konsequenzen blieb: Die meisten Bewohner der Scheibenwelt befanden sich in einem geistigen Stadium, das man normalerweise nur mit jahrzehntelanger hingebungsvol er Meditation oder dreißig Sekunden nach der Einnahme verbotener Kräuterelixiere erreicht.
So ist das eben mit Zweiblum, dachte Rincewind. Man kann nicht behaupten, er wisse keine Schönheit zu schätzen. Er bewundert sie nur auf seine eigene Art und Weise. Ich meine: Wenn ein Dichter eine besonders prächtige Narzisse sieht, preist er sie mit eindrucksvollen Reimen. Zweiblum aber würde sich auf die Suche nach einem Lehrbuch über Botanik machen – und es von vorne bis hinten durchlesen. Cohen hat recht. Der Tourist beobachtet schlicht und einfach, aber was er ansieht, scheint sich irgendwie zu verändern. Und ich nehme an, das trifft auch auf mich zu.
Die Sonne der Scheibenwelt ging auf. Der rote Stern schrumpfte immer mehr und konnte kaum noch mit ihr konkurrieren. Gutes, zuverlässiges Scheibenweltlicht strömte über die stille Landschaft, wie ein Meer aus Gold.
Oder goldenem Sirup gleich, wie jemand behauptet hätte, der größeren Wert auf metaphorische Genauigkeit legte.
Dies ist ein genügend dramatisches Ende, aber im wirklichen Leben kann man die einzelnen Kapitel nur selten an der richtigen Stel e beenden, und es mußten noch einige andere Dinge geschehen.
Man denke nur ans Oktav.
Als Sonnenlicht über das Buch tropfte (Sirup, erinnern Sie sich?), klappte es zu und kehrte zum Turm zurück. Viele Zuschauer begriffen plötzlich, daß ihnen der magischste al er magischen Gegenstände auf der Scheibenwelt entgegenfiel.
Das Gefühl der Glückseligkeit und allgemeiner Kameradschaft verdun-stete zusammen mit dem Morgentau. Rincewind und Zweiblum wurden einfach zur Seite gestoßen, als Dutzende von Personen vorstürmten, übereinander hinwegstiegen und gierig die Hände ausstreckten.
Das Oktav verschwand im Zentrum der schreienden Menge. Rincewind vernahm ein lautes und ziemlich energisches Knal en, das Assozia-tionen an einen gewölbten Deckel weckte, der nicht geneigt war, sich öffnen zu lassen.
Der Zauberer krabbelte auf al en vieren umher, starrte an einigen Beinen vorbei und sah Zweiblum.
»Ich habe da eine ganz bestimmte Vermutung«, sagte er und lächelte schief.
»Welche?«
»Wenn du deinen Koffer öffnest, findest du bestimmt nichts weiter als saubere und nach Lavendel duftende Wäsche.«
»Lieber Himmel!«
»Nun, ich glaube, das Oktav kann auf sich selbst achtgeben. Außerdem befindet es sich jetzt an einem sehr sicheren Ort.«
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