Hinter ihm knarrten trockene Zweige. Als sich der Zauberer umdrehte, fiel sein Blick auf Ymper Trymon, den zweithöchsten Magier des Ordens. Nur Ymper war imstande, ihm auf den Turm zu folgen.
Galder ignorierte ihn einige Sekunden lang, hielt sich vorsichtshalber an der Brustwehr fest und verstärkte seinen persönlichen Schutzzauber.
Das Gewerbe der Magie gewährte denjenigen, die ihm nachgingen, für gewöhnlich eine besonders hohe Lebenserwartung, und dieser Umstand erschwerte Beförderungen. Deshalb versuchten jüngere Zauberer häufig, den langen Weg zu Ruhm und Macht abzukürzen, indem sie in die Fuß-
stapfen toter Vorgänger traten und die Stelle des Meisters einnahmen, den sie zuvor – auf mehr oder weniger elegante Weise – umgebracht hatten. Außerdem hielt Galder Trymons Gebahren für in höchstem Ma-
ße verdächtig. Er rauchte nicht, trank nur abgekochtes Wasser, und was noch weitaus schlimmer war: Er schien klug und gewitzt zu sein. Er lä-
chelte nicht oft, mochte Zahlen und jene Art von Organisationsdia-grammen, die viele Kästen mit Pfeilen aufwiesen, die auf andere Recht-ecke zeigten. Kurz gesagt: Trymon gehörte zu den Männern, die es ernst meinten, wenn sie von ›Personal‹ sprachen.
Die sichtbaren Regionen der Scheibenwelt waren nun mit einem weiß schimmernden Film bedeckt, der sich al en Konturen anpaßte.
Als Galder auf seine Hände starrte, stellte er fest, daß sich ein dünnes Netzwerk aus glänzenden Linien darauf bildete, die al en seinen Bewegungen folgten.
Diesen Zauber kannte er. Er hatte ihn selbst einmal benutzt, in einer kleineren, wesentlich beschränkteren Form.
»Es ist der Zauber des Wandels«, sagte Trymon. »Die ganze Welt wird verändert.«
Einige Leute, dachte Galder grimmig, hätten den Anstand, ein Ausrufezeichen hinter eine solche Bemerkung zu setzen.
Unmittelbar darauf vernahm er ein zartes Zirpen, so als zerbreche das Herz einer an Liebeskummer leidenden Maus.
»Was war das?« fragte er.
Trymon neigte den Kopf zur Seite.
»Cis, glaube ich«, sagte er.
Galder schwieg. Der weiße Glanz verflüchtigte sich, und der Wind trug den beiden Zauberern die ersten Geräusche der erwachenden Stadt entgegen. Nichts schien sich verändert zu haben. Warum die Mühe, nur um al es so zu lassen, wie es ist? fuhr es Wetterwachs durch den Sinn.
Er suchte in den Taschen seines Nachthemds und fand das, was er suchte, schließlich hinter dem einen Ohr. Rasch schob er sich den feuchten Stummel zwischen die Lippen, schnippte mit den Finger und beschwor ein magisches Feuer, mit dem er den Zigarettenrest anzündete, und sog so lange, bis farbige Schlieren vor seinen Augen erschienen. Er hustete kurz und blies eine Rauchwolke von sich.
Galder konzentrierte sich und dachte angestrengt nach.
Er versuchte, sich zu erinnern, ob ihm irgendeiner der Götter einen Gefallen schuldete.
Die seltsamen Vorgänge auf der Scheibenwelt verwunderten die Götter ebenso sehr wie die Zauberer, doch selbst wenn sie in der Lage gewesen wären, etwas gegen das seltsame Glühen zu unternehmen (was bezwei-felt werden muß): Ihr Hauptaugenmerk galt dem äonenlangen Kampf gegen die Eisriesen, die sich weigerten, ihnen den Rasenmäher zurückzugeben.
Niemand wußte, was sich zugetragen hatte, doch es gab einige Hinweise, und einer davon betraf Rincewind. Bei der Rückschau auf sein vergangenes Leben erreichte er gerade eine recht interessante Stelle, die ihm einen fünfzehnjährigen Knaben zeigte, der erste Erfahrungen in bezug auf das andere Geschlecht sammelte. Und plötzlich mußte er sich der Erkenntnis beugen, daß er gar nicht mehr starb, sondern kopfüber in einer hohen Fichte hing.
Sein Körper gehorchte natürlich dem Gesetz der Schwerkraft, indem er von einem Ast zum nächsten fiel. Jedoch bevor sich Rincewind über diese neue Wendung des Schicksals Gedanken machen konnte, landete er auf zum Glück recht weichem Waldboden, schnappte nach Luft und wünschte sich, ein anständigerer Mensch gewesen zu sein.
Auf irgendeine Art und Weise, so hoffte er, sollte es möglich sein, seine sonderbaren Erlebnisse zu erklären. Im einen Augenblick stirbt man, nach einem Sturz über den Rand der Welt, und im nächsten findet man sich in einer Fichte wieder…
Rincewind runzelte die Stirn.
Und wie immer bei solchen Gelegenheiten rührte sich die Zauberformel in seinem Bewußtsein.
Von seinen Lehrern war er mehrfach darauf hingewiesen worden, in der Kunst der Magier sei er mindestens ebenso geschickt wie Fische beim Bergsteigen. Wahrscheinlich hätte man ihn irgendwann aus der Unsichtbaren Universität verstoßen – er konnte Zaubersprüche nicht im Gedächtnis behalten, und wenn er rauchte, drehte sich ihm der Magen um. Doch richtig problematisch wurde seine Lage erst, als ihm die törichte Idee kam, in das Zimmer mit dem Oktav zu schleichen und einen Blick ins angekettete Buch zu werfen.
Und was alles noch schlimmer machte: Niemand vermochte herauszufinden, wer oder was die Vorhängeschlösser vorübergehend entriegelt hatte.
Nun, der Zauberspruch war kein besonders anspruchsvoller Untermie-ter in Rincewinds Geist. Er hockte einfach nur da, wie eine alte Kröte im Teich. Doch immer dann, wenn sich der Magier müde und abgespannt fühlte – oder wenn er sich fürchtete, wie jetzt –, regte sich die Formel und wol te ausgesprochen werden. Keiner wußte, was geschehen würde, wenn man einen der Acht Großen Zaubersprüche für sich allein murmelte, doch die meisten Leute vertraten die Ansicht, in einem solchen Fall sei es besser, weit, weit weg zu sein.
Rincewind gewann plötzlich den Eindruck, daß ihn die thaumaturgische Formel am Leben erhalten wol te – eine überraschende Erkenntnis für jemanden, der gerade vom Rand der Welt gestürzt war und auf einem Haufen Fichtennadeln saß.
»Ist mir ganz recht«, brummte er leise.
Er stemmte sich in die Höhe und beobachtete den Wald. Rincewind kam aus der Stadt; er hatte zwar gehört, daß es Pflanzenkenner gab, die Bäume in verschiedene Gruppen und Untergruppen einteilten, aber sein Wissen beschränkte sich darauf, daß das dicke Ding, an dem keine Blätter hingen, in den Boden gehörte. Langsam drehte er den Kopf. Hier ragten viel zu viele Stämme in die Höhe, und ihre Anordnung bildete überhaupt kein erkennbares Muster. Außerdem herrschte zwischen ihnen das reinste Chaos. Er nickte grimmig und kam zu dem Schluß, daß der Wald schon seit Äonen nicht mehr gefegt worden war.
Noch etwas anderes fiel ihm ein. Er erinnerte sich an die Behauptung, man könne sich orientieren, indem man feststellt, auf welcher Seite eines Stammes Moos wächst. Diese Bäume aber wiesen rundum Moosfladen auf, und darüber hinaus weckten Dutzende von hölzernen Warzen und dürre, verkrüppelte Äste Rincewinds Aufmerksamkeit. Wenn Bäume wie Menschen sind, dachte er, dann gehören sie in Schaukelstühle vor einem warmen Kamin.
Er versetzte dem nächsten Stamm einen ärgerlichen Tritt. Der Baum reagierte sofort und warf eine wohlgezielte Eichel auf ihn herab. »Au!« entfuhr es dem Zauberer. Gleich darauf ertönte eine Stimme, die sich anhörte, als schwinge eine uralte Tür zu. »Geschieht dir ganz recht.«
Eine Zeitlang war es still.
Dann fragte Rincewind: »Hast du das gesagt?«
»Ja.«
»Und das auch?«
»Ja.«
»Oh.« Er dachte kurz nach und fügte schließlich hinzu: »Ich nehme an, du weißt nicht zufällig, vielleicht, äh, möglicherweise den Weg aus dem Wald?«
»Nein«, sagte der Baum. »Ich komme nicht viel herum.«
»Scheint ein ziemlich langweiliges Leben zu sein.«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Baum. »Ich kenne kein anderes, bin immer nur ein Baum gewesen.«
Rincewind sah ihn sich genauer an. Der Stamm wirkte völlig normal, ebenso die Zweige und Blätter.
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