»Hol die Seher, Kristallschauer, Weitblicker, Rätseldeuter, Omenbefra-ger und Kaffeesatzleser aus den Betten!« wies er den Lehrling an. »Dieses Phänomen muß untersucht werden!«
Irgend etwas formte sich im Innern des Feuerballs. Galder schirmte sich die Augen ab und beobachtete, wie der Schatten Konturen gewann.
Ja, kein Zweifel: das Universum.
Er war deshalb völlig sicher, weil er in seinem Arbeitszimmer ein entsprechendes Model aufbewahrte, von dem al e meinten, es sei viel beeindruckender als das Original. Angesichts der Möglichkeiten, die Ihm Staubperlen und silbernes Filigran boten, hatte der Schöpfer nur ratlos mit dem Kopf geschüttelt.
Doch das winzige Universum im Innern des Feuerballs wirkte unheimlich und… nun, echt. Es mangelte ihm nur an Farbe. Galder sah nichts weiter als transparenten, milchigen Dunst.
Kurze Zeit später erkannte er Groß-A'Tuin, die vier Elefanten auf ihrem – oder seinem – Rücken, auch die Scheibenwelt. Sein gegenwärtiger Standort verwehrte ihm einen Blick auf die Oberfläche, was jedoch nichts daran änderte, daß al e Einzelheiten maßstabsgerecht nachgebildet waren. Er bemerkte eine winzige Reproduktion des Massivs Cori Celesti und erinnerte sich an die zänkischen und ein wenig kleinbürgerlichen Götter, die auf dem Gipfel des riesigen Gebirges wohnten, in einem Palast aus Marmor und Alabaster, gekleidet in völlig unmodische, dreiteilige Gewänder aus kitschigem Mokett, die sie in heiliger Geschmacksverir-rung als ›Würdentracht‹ bezeichneten. Alle Bewohner der Scheibenwelt, die Wert auf Kultur legten, empfanden es als Ärgernis, daß das Kunst-verständnis ihrer Götter nicht über singende Türklingeln hinausging.
Das kleine Embryonenuniversum bewegte sich langsam, neigte sich zur Seite…
Galder versuchte zu schreien, aber er brachte keinen Laut von den Lippen.
Der Schatten dehnte sich zögernd, doch mit der unaufhaltsamen Schicksalhaftigkeit einer Explosion.
Zuerst entsetzt und dann erstaunt sah er zu, wie ihn der Rand des Universums durchdrang, so mühelos wie ein Gedanke. Er streckte die Hand aus, und die geisterhaft blassen Schemen von Hügeln und Bergen glitten in geschäftiger Stille an seinen Fingern vorbei.
Groß-A'Tuin, größer als ein Haus, war bereits im Boden versunken.
Die Zauberer hinter Galder standen bis zu den Hüften in Seen. Wetterwachs bemerkte ein Boot, kleiner als ein Fingerhut, dem er sekunden-lang nachstarrte, ehe es von der Strömung durch die Wand getragen wurde. »Zum Dach!« brachte er hervor und deutete zitternd in die Höhe.
Jene Magier, die ihre Hustenanfäl e überwunden hatten und noch nicht zu verwirrt waren, um in Panik zu geraten, folgten ihm durch Kontinente, die durch festen Stein schwebten.
Draußen herrschte noch immer die Dunkelheit der Nacht, doch ein fahles Glimmen kündigte den neuen Tag an. Ein sichelförmiger Mond ging gerade unter. Ankh-Morpork, die größte Stadt in der Nähe des Runden Meeres, schlief.
Obwohl, diese Behauptung ist nicht ganz richtig.
Die Bürger der Stadt, die sich normalerweise damit beschäftigten, Ge-müse zu verkaufen, Hufeisen zu schmieden, kostbaren Jadeschmuck herzustellen, Geld zu wechseln und Tische zu zimmern, lagen tatsächlich in ihren Betten und träumten süß. Jedenfal s die meisten. Bis auf diejenigen, die an Schlaflosigkeit litten. Oder gerade aufgestanden waren, um auf die Toilette zu gehen. Die anderen Bewohner der Stadt, die nicht ganz soviel von Recht und Ordnung hielten, waren putzmunter. Sie schlichen durch Häuser, in denen sie eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatten, schnitten Kehlen durch, prügelten sich und lauschten lauter Musik, die in stickigen Kel ern erklang. Mit anderen Worten: Sie hatten mächtig Spaß. Die überwiegende Mehrheit der Tiere schlief. Abgesehen natürlich von den Ratten. Und den Fledermäusen. Was die Insekten betraf…
Nun, damit sol folgendes verdeutlicht werden: Al gemein beschrei-bende Formulierungen sind selten genau, und während Olaf Quimby II. als Patrizier von Ankh herrschte, erließ er ein Gesetz, das derartige Dinge verbot. Seine Absicht bestand ganz einfach darin, Berichte glaubwürdiger zu machen. Wenn es zum Beispiel in einer Legende von einem kühnen Helden hieß, »al e bewunderten seine Tapferkeit«, so fügte jeder Barde, dem etwas an seinem Leben lag, hastig hinzu: »Bis auf einige Leute in seinem Heimatdorf, die ihn für einen Aufschneider hielten, und viele andere Leute, die noch nie etwas von ihm gehört hatten.« Dichteri-sche Gleichnisse beschränkten sich auf Bemerkungen wie »Sein mächtiges Roß war so schnell wie der Wind an einem recht ruhigen Tag, sagen wir: bei Windstärke drei«. Für unvorsichtige Behauptungen über Prinzessinnen, die so schön gewesen seien, daß sie al e Männer verzauberten, mußten hieb- und stichfeste Beweise vorgelegt werden, etwa die granitene Hand eines zu Stein erstarrten Minnesängers.
Quimby wurde schließlich von einem wütenden Poeten getötet. Er kam bei einem Experiment ums Leben, das auf dem Palastgelände statt-fand, um ein Sprichwort zu beweisen: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.« Zu seinem Gedenken erweiterte man es um den Zusatz: »Aber nur, wenn das Schwert sehr klein und die Feder besonders groß und spitz ist.«
Nun gut. Ungefähr siebenundsechzig – vielleicht auch achtundsechzig – Prozent der Stadtbewohner schliefen. Die anderen Bürger, die unterdessen ihren in der Regel ungesetzlichen Geschäften nachgingen, bemerkten nichts von der fahlen Flut, die durch die Straßen strömte. Nur die Zauberer – daran gewöhnt, Unsichtbares zu erkennen – beobachteten, wie sie das Land eintauchte.
Die Scheibenwelt ist flach und hat deshalb keinen richtigen Horizont.
Wenn sich abenteuerlustige Seefahrer mit närrischen Vorstellungen von Kugeln auf die Suche nach den Antipoden machen, stellen sie rasch fest, warum ferne Schiffe den Eindruck erwecken, über den Rand der Welt zu fal en. Die Erklärung ist ganz einfach: Sie fal en wirklich über die Kante.
Doch in der dunstigen, staubigen Luft war selbst die Reichweite von Galders Blick begrenzt. Er hob den Kopf. Mit seinen achttausendacht-hundertachtundachtzig Stufen überragte der Turm der Kunst die Universität, und er stand in dem Ruf, das älteste Gebäude auf der ganzen Scheibenwelt zu sein. Vom Zinnendach aus, das Raben und beunruhigend aufmerksamen Wasserspeiern als Treffpunkt diente, konnte der Zauberer bis zum Rand der Scheibe sehen. Nachdem er zuvor etwa zehn Minuten lang hingebungsvol gekeucht hatte.
»Von wegen«, brummte Galder. »Es hat doch schließlich seine Vortei-le, Magier zu sein, oder? Abrakadabra, hol’s der Teufel! Ich will fliegen!
Herbei, ihr Mächte der Luft und Finsternis!«
Er streckte eine knorrige Hand aus und deutete auf eine bröckelige Stelle der Brustwehr. Oktarine Funken stoben unter seinen nikotingelben Fingernägeln hervor und sausten den verwitterten Steinen weit oben entgegen.
Fels brach und fiel. Mit Hilfe eines genau berechneten Austauschs von Bewegungsmomenten stieg Galder auf, und das Nachthemd flatterte an seinem knochigen Leib. Immer höher schwebte er, raste durch das blasse Glühen, wie ein… In Ordnung, wie ein älterer und mächtiger Zauberer, der emporgerissen wurde, weil er dem Universum an der richtigen Stelle einen Tritt gegeben hatte.
Er landete auf einigen alten Nestern, bemühte sich, Gleichgewicht zu gewinnen und genoß den schwindelerregenden Anblick der Scheibenwelt-Dämmerung.
Zu dieser Zeit des langen Jahres befand sich das Runde Meer fast auf der Sonnenseite Cori Celestis, und als das Tageslicht die steilen Hänge hinabglitt und die Region von Ankh-Morpork erreichte, wuchs der spitze Schatten des Massivs in die Länge, wie der lange Zeiger einer göttlichen Sonnenuhr. Galder kniff die Augen zusammen, als er im Bereich der Nacht eine dünne weiße Front sah, die dem langsamen Licht figürliche Beine machte.
Читать дальше