bergehend Interesse an den Stickmustern. Als er wieder aufsah, war die Truhe immer noch da.
»Auf Wiedersehen«, sagte er und rannte los. Er schaffte es gerade rechtzeitig, die Tür hinter sich zuzuschlagen.
»Rincewind?«
Der Zauberer schlug die Augen auf. Was allerdings nicht viel nützte.
Der Unterschied bestand nur darin, daß er vorher Schwärze gesehen hatte und jetzt strahlendes Weiß erblickte – was überraschenderweise alles schlimmer zu machen schien.
»Fühlst du dich wohl?«
»Nein.«
»Oh!«
Rincewind setzte sich auf und kam zu dem Schluß, auf einem teilweise mit Schnee bedeckten Felsen zu sitzen, der sich jedoch nicht dort befand, wo er eigentlich hingehörte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Er bewegte sich, und dadurch schöpfte Rincewind sofort Verdacht.
Schneeflocken tanzten um ihn herum. Zweiblum stand neben ihm, und diesmal brachten seine Züge aufrichtige Besorgnis zum Ausdruck.
Rincewind stöhnte. Sein Körper liebte es nicht, so rauh und grob behandelt zu werden wie im Knusperhäuschen und während des Fluges mit dem Besen, und nun erhob er auf unangenehme Weise Protest.
»Was jetzt?« fragte der Zauberer.
»Erinnerst du dich? Als wir unterwegs waren und ich dich darauf hinwies, wir könnten in der Dunkelheit gegen irgendein Hindernis pral en…
Du hast mir geantwortet, in dieser Höhe käme nur eine mit Steinen volgestopfte Wolke in Frage.«
»Und?«
»Woher hast du das gewußt?«
Rincewind drehte den Kopf und musterte die Umgebung, die eine ebenso interessante Vielfalt bot wie das Innere eines Pingpongbals.
Der Stein unter ihm war… nun, steinhart. Als er mit der Hand über die kalte Oberfläche strich, fühlte er ein deutliches Zittern, so als würde der Fels mit Hammer und Meißel bearbeitet. Der Zauberer streckte sich lang aus, preßte das Ohr auf den Granit und hörte ein leises, langsames Pochen, wie ein Herzschlag. Er kroch vor, bis er den Rand erreichte, spähte vorsichtig darüber hinweg.
Genau in diesem Augenblick flog der Felsen über eine Lücke in der dichten Wolkendecke, und Rincewind schnappte erschrocken nach Luft, als er in der Tiefe – weit unter ihm – zerklüftete Berggipfel sah.
Er röchelte und schob sich rasch wieder zurück.
»Das ist doch lächerlich«, sagte er zu Zweiblum. »Felsen schweben nicht hoch über dem Boden. Sie haben den Ruf, ziemlich schwer zu sein.«
»Viel eicht würden sie gern aufsteigen, wenn sie könnten«, erwiderte der Tourist. »Möglicherweise hat dieser gerade das Fliegen gelernt.«
»Wollen wir nur hoffen, daß er es nicht wieder vergißt«, brummte Rincewind. Er zog sich den klammen Mantel enger um die Schultern und starrte bedrückt auf die Wolken in der Nähe. Er vermutete, daß es irgendwo Leute gab, die eine gewisse Kontrol e über ihr Leben hatten, die des Morgens aufstanden, abends zu Bett gingen und sicher sein konnten, nicht über den Rand der Welt zu fal en, von Verrückten angegriffen zu werden oder auf einem Felsen aufzuwachen, der es sich in den steinernen Kopf gesetzt hatte, wie ein Vogel zu fliegen. Er erinnerte sich vage daran, selbst einmal ein solches Leben geführt zu haben.
Rincewind schnüffelte. Irgend etwas briet, und der Duft wehte ihm aus dem milchigen Dunst entgegen, übte eine sehr anregende Wirkung auf seinen knurrenden Magen aus.
»Riechst du etwas?« fragte er.
»Ich glaube, es ist Schinken«, antwortete Zweiblum.
»Ich hoffe, daß es Schinken ist«, sagte Rincewind fest, »denn ich werde ihn essen.« Er erhob sich, schwankte auf dem zitternden Untergrund, stapfte an faserigen Wolkenfetzen vorbei und versuchte, die feuchten Nebelschwaden mit seinen Blicken zu durchdringen.
Am vorderen Ende des Felsens – gewissermaßen am Bug – saß ein schmächtiger Druide mit gekreuzten Beinen vor einem kleinen Feuer.
Ein Öltuch ruhte auf seinem Kopf und bildete einen dicken Knoten unterm Kinn. Mit einer Schmucksichel drehte er mehrere Scheiben Schinken um, die in der Pfanne vor ihm brutzelten.
»Ähem«, räusperte sich Rincewind demonstrativ laut. Der Druide sah sich um und ließ die Pfanne ins Feuer fallen. Er sprang auf, schloß die Hand fester um den Sichelgriff und nahm eine so drohende Haltung ein, wie es jemandem möglich war, der ein langes weißes Nachthemd und ein tropfnasses Kopftuch trug.
»Ich warne euch«, stieß er hervor, schnitt eine Grimasse und nieste heftig. »Entführer fliegender Felsen haben von mir keine Gnade zu erwarten.«
»Wir halten von solchen Leuten ebenfal s nichts«, sagte Rincewind und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den verkohlenden Schinken. Dieses Verhalten schien den Druiden zu verwirren. Übrigens sol hier nicht unerwähnt bleiben, daß der schmächtige Mann zu Rincewinds großer Überraschung ziemlich jung war. Die Theorie ließ natürlich Platz für junge Druiden, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich solche Leute immer mit runzligen Gesichtern und langen Bärten vorgestellt.
»Ihr habt gar nicht die Absicht, den Felsen zu stehlen?« fragte der Druide, völlig aus dem Konzept gebracht.
»Ich weiß nicht einmal, wie man Felsen stiehlt«, erwiderte Rincewind lustlos.
»Entschuldigt bitte«, warf Zweiblum ein. »Ich glaube, das Frühstück verbrennt im Feuer.«
Der Druide drehte sich um und versuchte vergeblich, die Flammen zu ersticken. Rincewind zögerte nicht eine Sekunde, ihm zu helfen. Es folgte ein Durcheinander aus Rauch, Asche und leisen Flüchen, und der ge-teilte Triumph, tatsächlich einige braunschwarze Schinkenstücke gerettet zu haben, bewirkte weitaus mehr als ein zweistündiger Vortrag über Di-plomatie.
»Wie seid ihr überhaupt hierher gekommen?« fragte der Druide. »Wir sind rund zweihundert Meter hoch – es sei denn, ich habe die Runen schon wieder durcheinandergebracht.«
Rincewind versuchte, nicht an Höhen und tiefe Abgründe zu denken.
»Wir flogen gerade vorbei und sagten uns: ›He, warum machen wir nicht einen kleinen Abstecher zu dem Felsen dort?‹« erwiderte er.
»Wie waren auf dem Weg nach unten«, fügte Zweiblum hinzu.
»Und stürzten hier ab«, meinte Rincewind. Sein Rücken beschwerte sich erneut. »Zum Glück«, brummte er.
»Ich glaube, wir sind vor einer Weile in eine Turbulenz geraten«, sagte der Druide, der, wie sich später herausstellte, Belafon hieß. »Offenbar wurde sie von euch verursacht.« Er schauderte. »Inzwischen hat sicher ein neuer Tag begonnen. Zum Teufel mit den Flugvorschriften: Ich sorge dafür, daß wir höher steigen. Haltet euch fest.«
»Woran?« fragte Rincewind unsicher.
»Nun, gebt einfach zu verstehen, daß ihr nicht gern herunterfal en wol t«, antwortete Belafon. Er holte ein großes, eisernes Pendel unter seiner Robe hervor und schwang es mehrmals über dem Feuer hin und her.
Dunstfetzen huschten an ihnen vorbei, und in Rincewind entstand das unangenehme Gefühl, plötzlich doppelt so schwer zu sein. Unmittelbar im Anschluß daran erreichte der Felsen hel en Sonnenschein.
Er verharrte einige Meter über den faserigen Nebelschwaden, unter einem kühlen, aber wunderbar blauen Himmel. Die Wolken – während der vergangenen Nacht schienen sie unerreichbar fern gewesen zu sein, und am Morgen stellte sich heraus, daß sie nicht etwa aus weicher Watte bestanden, sondern aus klammer, nasser Kälte – bildeten einen weiten Teppich, der sich in al e Richtungen erstreckte. Einige Berggipfel ragten wie Inseln daraus empor. Hinter dem Felsen zog der Fahrtwind eine tiefe Furche ins dichte Weiß. Der Felsen selbst… Er glänzte bläulich, war etwa neun Meter lang und drei Meter breit.
»Was für ein erstaunliches Panorama«, sagte Zweiblum bewundernd.
»Äh, was hält uns oben?« fragte Rincewind.
»Überzeugungskraft«, erwiderte Belafon und wrang den Saum seiner Robe aus.
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