»Nein«, unterbrach Arha sie mit erregter, schriller Stimme. »Ich möchte ihn lebendig festnehmen.«
Die Priesterin blickte von ihrer gewichtigen Höhe herunter auf das Mädchen. »Warum?«
»Um … um sein Sterben hinauszuzögern. Er hat sich gegen die Namenlosen vergangen. Er hat das Untergrab durch Licht entweiht. Er kam, um die Schätze aus den Gräbern zu stehlen. Er muß schwerer bestraft werden, als nur in einem Gang sich niederlegen zu dürfen und zu sterben.«
»Ja«, sagte Kossil und tat, als überlege sie etwas. »Aber wie will ihn meine Herrin fangen? Das ist eine riskante Sache. Mein Plan ist sicherer. Gibt es dort unten nicht irgendwo einen Raum voller Gebeine? Von Männern, die das Labyrinth betreten, aber nicht wieder lebendig verlassen haben? — Mögen ihn die Dunklen Mächte bestrafen, wie es ihnen richtig erscheint, auf die dunkle Art und Weise des Labyrinths. Der Tod des Verdurstens ist grausam.«
»Ich weiß«, sagte das Mädchen und trat hinaus in die Nacht. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf gegen den heftigen, bitterkalten Wind. Hatte sie es nicht gewußt?
Es war kindisch und dumm von ihr gewesen, zu Kossil zu gehen. Von ihr konnte sie keine Hilfe erwarten. Kossil war unwissend, sie verstand nichts, für sie gab es nur ein kaltes Abwarten, bis der Tod eintrat. Sie sah nicht ein, daß der Mann gefunden werden mußte. Mit ihm durfte nicht das gleiche geschehen wie mit den anderen. Das konnte sie nicht mehr durchmachen. Da der Tod unvermeidlich war, mußte er rasch, und im Tageslicht, vollzogen werden. Es war ohne Zweifel angemessener, daß dieser Dieb, der erste Mensch seit Jahrhunderten, der mutig genug war, hierher zu kommen und die Gräber zu berauben, durch eine Schwertklinge hingerichtet wurde. Er hatte noch nicht einmal eine unsterbliche Seele, die wiedergeboren werden konnte. Sein Geist würde jammernd durch die Gänge entweichen. Es konnte nicht zugelassen werden, daß er dort unten am Durst starb.
Arha schlief nur wenig in dieser Nacht. Der folgende Tag war mit Ritualen und Pflichten angefüllt. Die nächste Nacht verbrachte sie damit, ohne Laterne und lautlos von Guckloch zu Guckloch zu gehen, durch all die Gebäude und auf dem windigen Hügel. Schließlich ging sie zu Bett im Kleinhaus, zwei bis drei Stunden vor dem Morgengrauen, aber sie fand keinen Schlaf. Am Spätnachmittag des dritten Tages ging sie hinaus in die Wüste, gegen den Fluß zu, der jetzt, in der Trockenzeit des Winters, niedrig war. Eis hatte sich zwischen dem Schilf gebildet, und es war kalt. Es war ihr eingefallen, daß sie einmal, im Herbst, weit im Labyrinth herumgewandert war, am Sechserkreuz vorbei, und während sie einen langen, gekrümmten Gang entlangschritt, hatte sie hinter der Steinwand Wasser fließen hören. War nicht anzunehmen, daß ein vom Durst gepeinigter Mann, wenn er dorthin kam, dortblieb? Auch dort draußen gab es Gucklöcher. Sie mußte sie erst wieder suchen, auch wenn Thar ihr jedes einzelne gezeigt hatte letztes Jahr, und es fiel ihr nicht schwer, sie wiederzufinden. Ihr Erinnerungsvermögen für Örtlichkeiten war wie das eines Blinden: sie tastete eher nach den verborgenen Stellen, als daß sie ihre Augen benutzte. Beim zweiten Guckloch, das sich in einer flachen Vertiefung des Felsens befand und das am weitesten von den Gräbern entfernt war, sah sie, nachdem sie ihre Kapuze hochgezogen hatte, um das Licht abzuschirmen, unter sich das schwache Glühen des magischen Lichtleins.
Er war dort unten, halb aus ihrem Blickfeld gerückt. Das Guckloch blickte direkt hinunter ans Ende der Sackgasse. Sie konnte nur seinen Rücken, seinen gebeugten Nacken und seinen rechten Arm wahrnehmen. Er saß nahe an der Ecke und bohrte mit seinem Messer, einem kurzen Dolch aus Stahl, mit einem verzierten und mit Edelsteinen besetzten Griff, an den Steinwänden herum. Die Spitze des Dolches war abgebrochen, der abgebrochene Teil lag direkt unter dem Guckloch. Er hatte es beschädigt, als er versuchte, die Steine auseinander zu zwängen, um an das Wasser zu gelangen, das er in der toten Stille unter der Erde auf der anderen Seite der undurchdringlichen Wand leise murmelnd dahinfließen hörte.
Seine Bewegungen zeugten von Erschöpfung. Er war nach den drei Tagen und Nächten verändert, sah ganz anders aus, nicht mehr so kraftvoll und ruhig wie an der Eisentür. Aber er war noch immer hartnäckig, obwohl seine Kräfte erlahmt waren. Kein Zauberspruch stand ihm zur Verfügung, der diese Steine zur Seite rücken konnte, er mußte sich auf das nutzlose Messer verlassen. Selbst sein magisches Licht war schwächer geworden. Während Arha hinschaute, flackerte das Licht auf, der Kopf des Mannes zuckte, und der Dolch fiel zur Erde. Doch er bückte sich sofort wieder danach und versuchte beharrlich, die zerbrochene Klinge zwischen die Steine zu bohren.
Auf dem eiskalten Schilf an der Uferböschung liegend, ohne sich bewußt zu sein, wo sie war oder was sie tat, brachte Arha ihren Mund ans Guckloch und hielt ihre Hände wie einen Trichter davor, damit kein Laut entweichen konnte. »Zauberer!« sagte sie, und ihre Stimme schlüpfte die steinerne Kehle hinunter und flüsterte kalt im unterirdischen Gang.
Der Mann schrak zusammen, sprang auf die Füße und entzog sich so ihrem Blickfeld. Sie brachte ihren Mund wieder ans Guckloch und sagte: »Geh den Gang am Fluß entlang, zurück bis zur zweiten Abzweigung, dort geh nach rechts, laß zwei Öffnungen aus, dann wieder rechts, dort, wo sich sechs Wege kreuzen, wähl den ganz rechts; dann links, dann rechts, dann links, dann rechts. Bleib im Bemalten Raum.«
Als sie wieder hinunterschaute, mußte ein Lichtstrahl vom Tageslicht hinunter gelangt sein, denn er war wieder in ihr Blickfeld gerückt und starrte nach oben, gegen die Öffnung. Sein Gesicht, das irgendwelche Narben trug, war angespannt und aufmerksam. Seine Lippen waren ausgetrocknet und schwarz, doch seine Augen blickten hell. Er hob seinen Stab in die Höhe und brachte das Licht immer näher an ihre Augen. Erschreckt zog sie sich zurück, verschloß das Guckloch mit dem Stein und den anderen Tarnsteinen, erhob sich und ging hurtig zurück zur Stätte. Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten und wie eine Schwäche sie überfiel, während sie den Weg entlanglief. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Wenn er ihren Anweisungen folgte, dann würde er zurück in Richtung der eisernen Tür gehen und in den Bemalten Raum gelangen. Dort gab es nichts, es lag kein Grund vor, warum er dorthin gehen sollte. In der Decke des Bemalten Raumes war ein Guckloch, ein gutes, das sich in der Schatzkammer des Tempels der Zwillingsgötter befand. Vielleicht hatte sie ihn deshalb dorthin gewiesen. Sie wußte es nicht. Warum hatte sie mit ihm gesprochen?
Sie konnte ihm etwas Wasser durch das Guckloch hinunterlassen. Das würde ihn länger am Leben erhalten; so lange es ihr Spaß machte. Wenn sie ab und zu Wasser und etwas Nahrung hinunterließ, dann würde er wochen- oder monatelang am Leben bleiben und im Labyrinth umherwandern, und sie konnte ihn durch die Gucklöcher beobachten und ihm sagen, wo Wasser zu finden war, und manchmal konnte sie ihn irreleiten, und er würde vergeblich danach suchen, aber er würde ihr immer gehorchen müssen. Das würde ihn Respekt lehren, er würde es bitter bereuen, die Namenlosen verhöhnt zu haben, er, der seine lächerliche Männlichkeit in der Gräberstätte der Namenlosen beweisen wollte!
Aber so lange er dort unten war, konnte sie nie das Labyrinth betreten. Warum nicht? fragte sie sich und antwortete: … weil er durch die Eisentür, die ich hinter mir offenlassen muß, entweichen kann … Aber er würde nicht weiter als bis zum Untergrab kommen. Sie gestand sich die Wahrheit ein: sie fürchtete sich, ihm gegenüberzutreten. Sie hatte Angst vor seiner Macht, vor seinen Künsten, die ihm geholfen hatten, das Untergrab zu betreten, vor der Zauberkraft, die das Licht am Stab leuchten ließ. Aber war denn das so schrecklich? Die Mächte, die an den dunklen Orten herrschten, waren auf ihrer, nicht auf seiner Seite. Er konnte ganz offensichtlich wenig im Reich der Namenlosen ausrichten. Er hatte die eiserne Tür nicht öffnen können, er war nicht in der Lage, etwas zum Essen herbeizuzaubern, es gelang ihm nicht, Wasser durch die Wand zu leiten oder Dämonen herbeizurufen, die ihm die Wand einreißen konnten. Nein, er war machtlos hier, und das, wovor sie sich gefürchtet hatte, konnte er hier nicht wirken. In den drei Tagen, die er herumgewandert war, hatte er nicht einmal die Tür zur Großen Schatzkammer gefunden, die er gewißlich gesucht hatte. Sie selbst war noch nie Thars Anweisungen gefolgt und hatte diesen Raum aufgesucht; sie hatte es immer wieder verschoben, aus einem Gefühl der Ehrfurcht heraus, etwas in ihr sträubte sich dagegen, ein Gefühl, daß die Zeit noch nicht reif dazu war.
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