Jetzt überlegte sie sich aber: warum konnte er diesen Weg nicht für sie gehen? Er konnte, so lange er wollte, sich an den Schätzen der Gräber vergnügen. Sie würden ihm wahrlich wenig nutzen! Sie konnte sich über ihn lustig machen, konnte ihn auffordern, das Gold zu essen und die Diamanten zu trinken.
Mit der gleichen nervösen, fieberhaften Hast, die während der vergangenen drei Tage Besitz von ihr ergriffen hatte, rannte sie zum Tempel der Zwillingsgötter, schloß die kleine, gewölbte Schatzkammer auf und machte das gut verborgene Guckloch am Boden auf.
Der Bemalte Raum lag unter ihr, doch er war stockfinster. Der Weg, dem der Mann folgen mußte dort unten, war viel umständlicherer war meilenlang, das hatte sie ganz vergessen. Und er war zweifellos geschwächt und konnte sich nicht schnell bewegen. Vielleicht hatte er ihre Anweisungen vergessen und die falsche Richtung eingeschlagen. Nur wenige Leute konnten, wie sie, Anweisungen im Gedächtnis behalten, die sie nur einmal gehört hatten. Vielleicht verstand er ihre Sprache überhaupt nicht. Wenn das der Fall war, dann sollte er von ihr aus herumlaufen, bis er dort unten tot umfiel, der Narr, der Fremde, der Ungläubige! Dann konnte sein Geist die steinernen Gänge der Gräber von Atuan entlang heulen, bis die Dunkelheit selbst ihn verzehrte …
Am nächsten Morgen, ganz früh, nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Träume, kehrte sie zu dem Guckloch in dem kleinen Tempel zurück. Sie blickte hinunter und sah nichts, nur Schwärze. Sie ließ eine Kerze, die in einer kleinen Blechlaterne brannte, an einer Kette hinunter. Dort, im Bemalten Raum, erblickte sie ihn. Sie sah, im Lichtkreis der Lampe, seine Beine und eine schlaffe Hand. Sie brachte ihren Mund an das Guckloch, das so groß wie eine ganze Bodenkachel war und sagte: »Zauberer!«
Nichts rührte sich. War er tot? Besaß er denn nicht mehr Stärke? Sie lächelte verächtlich; ihr Herz schlug heftig. »Zauberer!« schrie sie, und ihre Stimme dröhnte in dem hohlen Raum unter ihr. Er bewegte sich, setzte sich langsam auf und schaute verwirrt um sich. Nach einer Weile blickte er hoch, zuckte zusammen, als er die kleine Laterne wahrnahm, die an der Decke hin und her schaukelte. Sein Gesicht sah schrecklich aus, geschwollen, so dunkel wie das Gesicht einer Mumie.
Er griff nach dem Stab, der neben ihm auf dem Boden lag, aber kein Lichtlein glühte an dem Holz. Keine Macht war mehr in ihm.
»Willst du den Schatz der Gräber von Atuan sehen, Zauberer?«
Er richtete sich mühsam auf und blinzelte in das Licht der Laterne, sonst konnte er nichts wahrnehmen. Nach einer Weile nickte er einmal mit dem Kopf, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die vielleicht als Lächeln begonnen hatte.
»Verlaß diesen Raum, wende dich nach links, nimm den ersten Gang links …!« Sie ratterte die lange Reihe von Anweisungen herunter ohne abzusetzen und fügte am Ende hinzu: »Dort ist der Schatz, den du suchst. Und dort findest du, vielleicht, Wasser. Was hättest du denn jetzt lieber, Zauberer?«
Er stand jetzt schwankend auf den Füßen und hielt sich an seinem Stab fest. Mit Augen, die nichts sehen konnten, blickte er hoch und versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner ausgetrockneten Kehle. Er zuckte fast unmerklich die Achseln und verließ den Bemalten Raum.
Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Weg zur Großen Schatzkammer würde er sowieso nicht finden. Die Anweisungen waren so lang, er würde sie sich nicht merken können, und dort befand sich auch der Schacht, wenn er überhaupt so weit kam. Jetzt war er ganz im Dunkeln. Er würde sich verlaufen und endlich umfallen und irgendwo in den engen, hohlen, ausgetrockneten Gängen sterben. Manan würde ihn finden und herausschleifen. Das war das Ende. Arha hielt sich am Rande des Gucklochs fest und schwang ihren gekrümmten Körper hin und her, hin und her und biß sich auf die Lippen, als wäre sie in furchtbarer Pein. Sie würde ihm kein Wasser geben. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Tod, den Tod, den Tod, den Tod, DEN TOD würde sie ihm geben.
In dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens betrat Kossil mit schwerem Schritt die Schatzkammer, eine unförmige Gestalt in der dicken Winterkleidung.
»Ist er tot?«
Arha hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, sie hatte nichts zu verbergen.
»Ich glaube«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihren Röcken. »Sein Licht ist erloschen.«
»Er kann uns einen Streich spielen. Die Seelenlosen sind sehr schlau.«
»Ich werde noch einen Tag warten, um sicher zu sein.«
»Ja, oder zwei. Dann kann Duby hinuntergehen und ihn herausziehen. Er ist stärker als der alte Manan.«
»Aber Manan steht im Dienst der Namenlosen und Duby nicht. Im Labyrinth sind Stellen, die Duby nicht betreten sollte, und der Dieb befindet sich an einer von ihnen.«
»Nun, dann ist der Ort ja bereits entweiht …«
»Und sein Tod reinigt ihn wieder«, sagte Arha. Sie konnte am Ausdruck von Kossils Gesicht ablesen, daß Kossil auf ihrem Gesicht etwas sah, das ihr verdächtig vorkam. »Dies ist mein Reich, Priesterin. Ich herrsche darüber und folge dem Willen meiner Gebieter. Ich habe keinen Unterricht mehr im Töten nötig.«
Kossils Gesicht schien sich in die schwarze Kapuze zurückzuziehen, wie eine Wüstenschildkröte in ihren Panzer, langsam, verbissen und kalt. »Sehr gut, Herrin.«
Sie trennten sich vor dem Altar der göttlichen Brüder. Arha ging, ohne sich zu beeilen, zum Kleinhaus und rief Manan zu sich, damit er sie begleite. Nachdem sie mit Kossil gesprochen hatte, wußte sie, was sie zu tun hatte.
Zusammen mit Manan ging sie den Hügel hinauf, betrat die Thronhalle und stieg hinunter ins Untergrab. Mit vereinten Kräften und großer Anstrengung zogen sie an dem langen Hebel der eisernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwer. Dann zündeten sie ihre Laternen an und traten ein. Arha ging voran zum Bemalten Raum, und von dort aus machte sie sich auf den Weg zur großen Schatzkammer.
Der Dieb war nicht weit gekommen. Sie und Manan waren nicht mehr als fünfhundert Schritte auf dem verschlungenen Weg gegangen, als sie auf ihn stießen. Er lag, wie ein Bündel alter Lumpen, zusammengesunken, in dem engen Gang. Er hatte seinen Stab weggeworfen, bevor er umfiel, doch er lag nicht weit entfernt. Er blutete aus dem Mund, seine Augen waren halb geschlossen.
»Er lebt noch«, sagte Manan, der niedergekniet war und mit seiner großen, gelben Hand den Puls an seiner Kehle fühlte. »Soll ich ihn erwürgen, Herrin?«
»Nein, ich will ihn lebendig haben. Nimm ihn hoch und trag ihn mir nach!«
»Lebendig?« Manan war beunruhigt. »Warum denn das, kleine Herrin?«
»Damit er Sklave der Gräber werden kann! Sei jetzt ruhig und rede nicht weiter! Tu, was ich dir sage!«
Sein Gesicht wurde noch melancholischer als gewöhnlich, doch Manan gehorchte und hob den jungen Mann mühelos auf seine Schulter, wie einen langen Sack. So beladen stolperte er hinter Arha her. Er konnte nicht weit gehen mit seiner Last. Sie hielten immer wieder an, damit Manan Atem schöpfen konnte. An jedem Haltepunkt war der Gang gleich: gräulichgelbe Steine an der Wand, die sich zum Rundbogen trafen, unebener Felsboden, verbrauchte Luft. Manan stöhnte und ächzte, der Fremde rührte sich nicht. Die zwei Laternen verbreiteten ein schwaches Lichtrund, das sich nach vorne und hinten in dem engen Gang verlor. An jeder Haltestelle tröpfelte Arha etwas von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte, in den Mund des Fremden, immer nur ein paar Tropfen, damit das wiedererwachende Leben ihn nicht töte.
»In den Kettenraum?« fragte Manan, als sie sich in dem Gang befanden, der zur eisernen Tür führte. Jetzt kam es Arha zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß sie nicht wußte, wohin sie den Gefangenen bringen sollte.
»Nein, nicht dorthin«, sagte sie, und wiederum wurde es ihr fast übel beim Gedanken an den Rauch und Gestank, an die verfilzten, sprachlosen, blinden Gesichter. Und außerdem, Kossil konnte diesen Raum betreten. »Er … er muß im Labyrinth bleiben, damit er seine Zauberkraft nicht wiedererlangen kann. Wo gibt es hier einen abgeschlossenen Raum …?«
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