Also ließ ich sie los. Wandte ihnen allen den Rücken zu, nahm die ganze Kraft meines Torques und meiner Rüstung zusammen und stellte einen Kontakt mit Grendel Rex, dem Unversöhnlichen Gott, her. Dem Teufel in seiner kalten dunklen Hel, tief unter dem Permafrost.
Ihn zu finden war leichter, als ich erwartet hatte. Mein Verstand schoss in einem einzigen Augenblick über die Meilen hinweg, die uns trennten, mein Gesicht wurde wie ein Magnet von dem Band angezogen, das wir gemeinsam hatten. Das der Familie. Meine Vision sank tief in die gefrorene Erde und ich spürte seine alte Präsenz beinahe sofort wie einen Schlag; groß, abstoßend und immer noch unglaublich mächtig. Ich fühlte mich wie ein Sporttaucher, der durch die kalte Nacht des Ozeans schwimmt und unerwartet auf einen Blauwal oder eine Riesenkrake trifft. Ich fühlte mich klein, überwältigt von der schieren Größe und Gewalt seiner Gegenwart. Nur ein Staubkorn in seinen Augen.
Vorsichtig schob ich mich weiter vorwärts und berührte seine Kraft. Es war, als stecke man einen Strohhalm ins Meer oder ließe einen Eimer in einen bodenlosen Brunnen sinken. Die Kraft überschwemmte mich; üppig und reißend, alles, was ich brauchte - und mehr noch. Und ein riesiges Auge öffnete sich langsam in der Dunkelheit und sah mich an.
Nun also. Wer störet mich nach dieser Zeit?
Ich erstarrte auf der Stelle, fror vor Schreck völlig ein. »Ich bin Edwin Drood«, sagte ich schließlich. »Ich … tue meine Arbeit. Ich versuche, die Menschheit vor der Zerstörung zu retten.«
So haben die Schafe noch ihre Hirten. Warum kommet Ihr zu mir, dem alten Ausgestoßenen, um Hilfe zu erbitten?
»Weil das, was ich tun muss, notwendig und wichtig ist. Weil ich nirgendwo sonst hinkann. Und weil ich … zur Familie gehöre.«
Ah, ja. Natürliche. Alles für die Familie. Was ist diese Bedrohung, die Ihr so fürchtet, dass Ihr Euch bereit erkläret, einen Pakt mit dem Teufel zu tun?
Ich begann mit einer Erklärung, aber er schob sich mühelos an meinen geistigen Schilden vorbei und nahm sich, was er brauchte, aus meinem Gedächtnis.
Ja, ich verstehe. Nun gut, kleiner Drood. So nehmt, was Ihr braucht.
Ich hätte mir die Energie einfach nehmen und verschwinden können, aber ich musste es wissen.
»Was hat Grigor in den Tiefen unserer DNA gesehen? Was könnte er gesehen haben, dass ihn so zutiefst erschrecken konnte? Weißt du das?«
Viellicht. Hier ist die Wahrheit, für die, welche die Stärke haben, sie zu ertragen.
Wir alle können Götter oder Teufel sein. Wir alle können hell strahlen wie die Sterne. Wir waren nie dazu geschaffen, nur Mensch zu bleiben. Wir sind nur die Larve von etwas, aus dem etwas Größeres entstehen kann. Ich denke, euer Grigor erhaschte einen Blick auf das, was wir wirklich sind und sein könnten, und dies ertrug er nicht. Die Realität besteht aus so viel mehr als Mann und Frau, Göttern und Dämonen. So viel mehr.
Das große Auge schloss sich langsam, wie der Mond sich bei einer Sonnenfinsternis vor die Sonne schob . Ich bin müde. Es ist noch nicht an der Zeit zu erwachen. Sagt der Familie … wir werden uns wiedersehen.
Ich rannte und nur mein Wille hielt mich zusammen. Die Macht, die ich mir genommen hatte, brannte in mir und forderte ihre Entfesselung. Sie begann bereits, mich von innen zu zerfressen. Ich ließ den Permafrost hinter mir, mein Verstand setzte über den gefrorenen Wald und die Stadt erschien vor mir wie ein Käfer auf einer Windschutzscheibe. Die Straßen waren voller unaussprechlicher Dinge. Gebäude entstanden und fielen oder verschmolzen miteinander. Eine große Welle von kreischenden Gesichtern schwappte eine Straße hinab, wie eine Menge Besessener und erschrockener Masken.
Die Sonne war ein Gesicht, das vor Wut brüllte. Grigors Gesicht.
Ich rief alle Macht, die ich mir genommen hatte und zwang sie unter meinen Willen; hielt sie in einer Hand, spuckend und Funken sprühend wie eine Million Lichtblitze. Ich warf sie auf die Stadt. Ein großer Schrei stieg aus den aufgewühlten Straßen auf, der von Wut, Trotz und seelentiefem Schrecken widerhallte, aber ich führte den Blitz mit meinem Verstand. Ich warf ihn direkt ins dunkle Herz von X25 und verjagte die Albträume, hinauf und hinaus, in die Sonne, die Grigors Gesicht trug. Für einen Moment hielt ich all den sich windenden Horror von X25 an einem Ort fest, jedes bisschen von Grigors Rache - und dann schickte ich es fort. Warf ihn in die eine Richtung zurück, aus der es nie wieder zurückkehren konnte.
In die Vergangenheit.
Ich sah mit gottgleichen Augen zu, als die geballte psychische Energie durch die Zeit zurückschoss, die ganze Zeit kreischend und heulend, bis sie sich schließlich nicht mehr länger zusammenhalten konnte und sich über der leeren Ebene von Tunguska am 30. Juni 1908 um 7:17 am Morgen mit einer einzigen Explosion in Nichts auflöste.
Ich erwachte wieder in meinem eigenen Kopf. Ich lag auf dem Boden des Laboratoriums. Die Macht war verschwunden und ich fühlte mich nicht mehr wie ein Gott. Ich war erschöpft, mir tat alles weh, und meine Augen fühlten sich an, als habe Sandpapier darübergerieben. Ich setzte mich langsam auf und jammerte dabei vor mich hin. Ich trug auch meine Rüstung nicht mehr. Der Boden unter mir war hart und fest, die Wände waren einfach nur Wände, und sowohl das Gebäude als auch die Straße draußen waren still. X25 wurde nicht länger von den Gespenstern seiner eigenen Ungeheuerlichkeiten heimgesucht.
Der Boden hatte Honey wieder ausgespuckt. Sie saß auf einem Stuhl, erschüttert und zitternd, aber sie bekam sich schon wieder unter Kontrolle. Walker war wieder er selbst, ruhig und gesammelt richtete er all seine Aufmerksamkeit darauf, seine Manschetten zu ordnen. Peter bemühte sich sehr, so auszusehen, als wäre nichts passiert. Ich stand langsam auf, und sie alle wandten sich mir zu.
Ich sagte ihnen, was passiert war und was ich getan hatte. Ich sagte ihnen aber nicht, was Grendel Rex über die menschliche DNA gesagt hatte. Er war ein Teufel und Teufel lügen immer. Außer wenn einen die Wahrheit härter treffen kann.
»Also warst du der Grund für das, was hier 1908 passiert ist?«, fragte Peter. »Du bist für das Tunguska- Ereignis verantwortlich?«
»Ein Drood war's«, sagte Honey. »Das hätte ich mir denken können.«
»Das meinem Großvater zu beweisen dürfte allerdings ein kleines bisschen schwierig werden«, sagte Peter.
»Machst du Witze?«, fragte ich. »So was kann man doch nicht geheim halten! Hellseher und Telepathen der ganzen Welt werden von dem, was ich grade getan habe, taub geworden sein. Niemand wird sie davon abhalten können, darüber zu reden, auch wenn meine Familie das zweifellos zu unterdrücken versuchen wird. Glücklicherweise kennen nur wir vier die Details, und ich glaube, es ist besser, wir belassen es dabei.«
»Oder die Droods werden kommen und uns alles vergessen lassen, wie damals bei Grendel Rex?«, fragte Honey.
»Genau«, sagte ich.
»Noch ein Grund, warum wir euch nicht in der Nightside operieren lassen«, murmelte Walker. »Nur mir ist gestattet, so willkürlich zu sein.«
»Können wir bitte losgehen und ein Lebensmittelgeschäft suchen?«, fragte Peter. »Irgendwo muss es doch ein paar Konserven geben. Wenn ich noch mehr Hunger bekomme, dann kriecht mein Magen den Hals rauf und wird meinen Kopf fressen.«
»Weißt du, ich würde wirklich eine Menge Geld dafür bezahlen, das zu sehen«, sagte Honey.
Wir verließen das Labor und gingen durch die verlassenen Straßen. Ich blieb ein wenig zurück und dachte über die anderen nach, während sie noch immer einigermaßen offen und verletzlich waren. Peter interessierte mich am meisten. Ich hatte ihn vorher noch nie wirklich verängstigt gesehen. Eigentlich war er, bedachte man seine Jugend und Unerfahrenheit mit der erweiterten Welt, mit dem Ungeheuer von Loch Ness und dem Hyde ziemlich gelassen geblieben. War interessiert, sogar beeindruckt, aber als es Zeit geworden war zu handeln, hatte er nicht gezögert, sondern seinen Teil beigetragen wie wir anderen. Für jemanden, dessen einzige Bekanntschaft mit dem Agentengeschäft auf dem Gebiet der Industriespionage lag, war das mehr, als man hätte erwarten können.
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