»Also lebten hier nur Wissenschaftler?«, fragte Peter.
»Wissenschaftler und ihre Familien und genug Leute und Infrastruktur, um ihnen das Leben zu ermöglichen«, sagte ich. »Und natürlich Militär, um alle zu überwachen. Die meisten Leute, die hier lebten, wussten wahrscheinlich nicht einmal, welche Schrecken in den streng abgeschiedenen Laboren stattfanden. Neugier war in Sowjetrussland keine geförderte Tugend.«
»Über welche Art von … Experimenten reden wir hier genau?«, fragte Walker.
»Richtig fiese, wenn man den paar Dossiers glauben darf, die ich gelesen habe«, sagte Honey. »Frühe Organtransplantationen, die an Kriminellen und Dissidenten vorgenommen wurde. Ich habe einmal den verstörenden Schwarz-Weiß-Film eines Mannes gesehen, der zwei Köpfe hatte. Beide waren sehr lebendig und bei Bewusstsein. Andere Subjekte wurden Strahlung in verschiedenen Dosierungen ausgesetzt, nur um zu sehen, was dann passierte. Damals war man noch weit von jeglicher Heilung oder Schutz entfernt. Sie brauchten Informationen, um daran zu arbeiten.«
»Dann gab es die chemische Kriegführung«, sagte ich, »sowie die biologische, psychische und übernatürliche: All die verbotenen Waffen des Krieges. Bis hierher reicht die Genfer Konvention nicht. Aber … die Jahre verstrichen und der Druck des Kalten Krieges verstärkte sich, und deshalb nahm die Forschung in diesen komplett verleugneten Städten seltsamere und gefährlichere Formen an. Stadt X17 beispielsweise bekam den Auftrag, Portale in andere Dimensionen zu öffnen. Irgendwie müssen sie dabei Erfolg gehabt haben, denn die Stadt verschwand 1966 plötzlich. Nur ein Krater blieb zurück. X35 spezialisierte sich darauf, aus gewöhnlichen Menschen Supermenschen zu machen. Dabei verwendete man Drogen, Strahlung, Gewebeverpflanzungen und implantierte außerirdische Technologie. Was bei der ganzen Mühe herauskam, war eine Serie von sehr teuren Monstern. Die am Ende ausbrachen. 1985 machte das Militär die ganze Gegend mit einer Thermonuklearbombe platt. Keiner entkam.
X48 produzierte geklonte Duplikate von wichtigen Personen, denen Bomben in den Bauch implantiert waren. Die ultimativen Bomben und die besten unverdächtigen Killer. Mein Onkel James hat das Programm damals, 1973, mit großem Abscheu terminiert.
Aber X25 war … bei Weitem die Schlimmste.«
»Hat deine Familie die Stadt geschlossen?«, fragte Honey plötzlich. »Wart ihr das?«
»Nein«, sagte ich. »Die Sowjets haben hier sehr erfolgreich versteckt, was sie taten, bis es zu spät war. Als wir endlich Gerüchte über das hörten, was sie hier zu erreichen versuchten, war es ihnen bereits um die Ohren geflogen. Alles, was wir noch tun konnten, war, ein paar Agenten zu schicken, die aus sicherer Entfernung alles beobachteten und Gewehr bei Fuß standen, um im Eventualfall alles auszulöschen. Es war nicht nötig, X25 fraß sich selbst.«
»Was zum Teufel haben sie hier gemacht, das so furchtbar war?«, fragte Peter.
»Ja«, fügte Honey hinzu. »Das wüsste ich selber auch gerne, bevor ich noch einen Schritt weitergehe.«
»X25 spezialisierte sich in genetischer Forschung und Manipulation«, sagte ich. »Sie nahmen menschliche DNA auseinander, um herauszufinden, wie sie funktioniert. Grenzwissenschaftliches Zeug, in den frühen Neunzigern. Sie suchten nach Geheimnissen, nach Wundern und Sensationen. Und haben sie gefunden; die armen Teufel.«
Die anderen warteten, aber das war alles, was ich im Moment sagen wollte.
»Wenn ich mich recht erinnere, wurden die meisten dieser Wissenschaftsstädte in den Neunzigern geschlossen oder verlassen«, sagte Honey. »Zu teuer, um sie in den eher nüchternen Tagen der neuen Ordnung zu unterhalten, wo jedem die Wirtschaft um die Ohren flog. Eine Menge Wissenschaftler wurden nicht mehr bezahlt, also stimmten sie mit den Füßen ab und gingen fort. Die Soldaten haben sie nicht aufgehalten, weil sie selbst monatelang nicht bezahlt worden waren. Ein paar Städte überlebten noch eine Weile, weil sie sich gewöhnlicher Forschung zuwandten, mithilfe von freien Unternehmen oder der Mafia, aber zu Beginn des neuen Jahrtausends waren alle diese Orte verlassen und aufgegeben. Teure Relikte aus dem Kalten Krieg, im neuen Machtgefüge so gut wie vergessen. Keiner kümmerte sich mehr darum. Keiner erinnerte sich mehr daran, woran die meisten gearbeitet hatten.«
Sie hielt an und wandte sich mir zu. Peter und Walker taten das auch. Ich seufzte und fuhr widerwillig fort.
»X25. Genetische Forschung und Manipulation. Und nicht die Art, über die du gestolpert bist, Peter. Kein Frankenfood, kein Goldfisch, der im Dunkeln leuchtet, keine Mäuse mit Menschenohren, die aus ihrem Rücken wachsen. Und auch keine außerirdischen Eindringlinge, die sich frei an unserem Genpool bedienen. Nein. Die Wissenschaftler hier waren ausschließlich daran interessiert, die Geheimnisse der menschlichen DNA zu entdecken. Sie ist es, die uns zu dem macht, was wir sind, aber wir kennen das meiste, was sie tut, immer noch nicht. Wozu sie da ist, was sie machen soll. Die sowjetischen Wissenschaftler näherten sich dem Problem in der üblichen direkten und pragmatischen Weise. Sie experimentierten mit Leuten herum. Verbrecher und Dissidenten, Juden und Homosexuelle, jeder, der sich öffentlich äußerte oder einfach nicht vermisst werden würde. Es gab niemals zu wenig Unpersonen in den schlechten alten Tagen Sowjetrusslands. Keiner weiß genau, wie viele Leute in den geheimen Laboratorien von X25 gelitten haben und gestorben sind. Hunderte, Tausende, Hunderttausende … keiner weiß es.«
»Warum hat Ihre Familie nichts dagegen unternommen?«, sagte Walker.
»Das meiste, was wir jetzt wissen, haben wir erst danach herausgefunden«, sagte ich. »Als alles den Bach runterging und das sowjetische Militär den Ort stilllegen wollte und das nicht geschafft hat. Die Welt ist groß, und nicht einmal die Droods können überall gleichzeitig sein. Auch wenn wir intensiv daran arbeiten.
Die Wissenschaftler hier haben intensiv versucht, die DNA zu sequenzieren, stimulieren und einfach an jedem Teil davon herumzupolken, den sie nicht verstanden haben. All diese Informationen, die auf dem niedrigsten Level in uns gespeichert sind. Wenn sie Zugang zu jeder Sequenz hätten und auch nur einen Teil davon kontrollieren könnten, dann könnten sie vielleicht etwas schaffen, das mehr als nur menschlich ist. Also - hier waren sie, haben blind in der Dunkelheit gearbeitet und einfach zufällig Knöpfe gedrückt. Als liefe man in einem leeren Gastank herum und würde mit einem Streichholz nach dem Leck suchen.«
»Was ist passiert?«, fragte Peter ungeduldig.
»Wir wissen es nicht genau«, sagte ich. »Das erste Mal, dass die Sowjets daran dachten, dass etwas ganz schrecklich schiefgegangen war, war der Zeitpunkt, an dem X25 sich einfach nicht mehr meldete. Überhaupt kein Datenverkehr und keine Kommunikation mehr. Keine Antworten auf die immer dringlicher werdenden Anfragen. Die Sowjetbehörden folgten ihrem üblichen Prozedere und schickten das Militär. Und nicht nur einfache Soldaten, es waren Spetsnaz, ihre Antwort auf die britischen Special Air Service, eine Sondereinheit. Abgebrühte Veteranen und harte Kämpfer von der afghanischen Front. Sie hatten Befehl reinzugehen, die Ordnung unter allen Umständen wiederherzustellen und gezielt Fragen zu stellen, bis jemand antwortete.
Aber selbst sie konnten nicht mit dem fertig werden, was in X25 herumlief.
Fünfhundert schwerbewaffnete Männer gingen rein, neunzehn kamen wieder raus. Gebrochen, hysterisch und traumatisiert. Schrien irgendwas von Monstern. Der Kreml traf Anstalten, die Stadt mit einer Atombombe zu sprengen, aber in dem Moment bekamen wir Wind von der Sache und schritten ein, um sie aufzuhalten. Tschernobyl war noch gar nicht so lange her, und es gab keine Möglichkeit, dass die Welt eine zweite tödliche radioaktive Wolke toleriert hätte. Der Dritte Weltkrieg war in diesen Tagen näher, als die meisten Leute ahnten. Wir rissen uns den Arsch auf, traten Buschfeuer aus und brachten die Leute wieder dazu, fair zu bleiben. Wie auch immer, wir schickten zwei unserer Agenten vor Ort hin, um die Stadt aus sicherer Entfernung zu beobachten, aber X25 war ihre Größe und ihren Zweck betreffend ziemlich tot. Also erklärten wir die Region einfach für jeden zum Sperrgebiet, auf das Risiko hin, sie alle echt wütend auf uns zu machen, aber dafür schlafende Hunde nicht zu wecken.
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