»Einfach mal so, um einen Grund zu haben«, meinte Walker. »Was würde denn passieren, wenn wir das täten?«
»Das Ende aller Dinge«, sagte ich. »Die Zerstörung der Welt und der Menschheit, wie wir sie kennen. Die Hölle auf Erden, für immer und ewig.«
»Oh«, sagte Walker. »Dann sollten wir das besser nicht tun.«
»Besser wäre das«, erwiderte ich.
»Manchmal kannst du eine richtige Dramaqueen sein«, sagte Honey. Sie sah mich misstrauisch an. »Wieso wisst ihr Droods überhaupt so viel über diese gottverlassene Gegend?«
Ich lächelte so gut ich das mit meinen halb erfrorenen Lippen konnte. »Das würdest du wohl gerne wissen.«
Wir trotteten durch die verlassene Stadt. Immer noch gab es kein Lebenszeichen. Die einzigen Laute waren unsere unregelmäßigen Schritte, die von den kahlen, abweisenden Mauern widerhallten. Wir waren alle zu Tode erschöpft, innerlich und äußerlich, jede Bewegung wurde zur Anstrengung. Ich hatte das Gefühl, ich müsse schreien, um die Stille zu unterbrechen und zu sehen, ob jemand antwortete, aber ich tat es nicht. Wenn jemand an diesem verlassenen Ort noch lebte, dann war ich recht sicher, dass er nicht zu der Sorte Leute gehörte, die ich gerne träfe. Und selbst darüber hinaus - die Stadt war zu still, zu ruhig. Wie eine kauernde Katze, zum Sprung auf die Beute bereit. Es fühlte sich an, als würden wir beobachtet. Von überallher.
Die Straßenlampen leuchteten nicht und hinter keinem der Fenster war ein Licht auszumachen. Kein Anzeichen von irgendeiner Energie in irgendeinem Teil der Stadt. Hier und da kamen wir an einem altmodischen Kastenwagen mit zerschlagener Windschutzscheibe vorbei, dessen Türen offen standen. Große Rostlöcher klafften in den Metallteilen, als ob sie vergammelten. Die Häuser waren in typischer Sowjetmanier gebaut: massive Betonklötze und krude Steingebäude, mit all dem Charme und dem Charakter einer Ohrfeige ins Gesicht. Kein Anzeichen dafür, dass sie bewohnt waren.
Endlich fanden wir einen Laden mit Kleidern. Hinter dem verschmierten Glas waren schwere Mäntel und Hüte ausgestellt. Wir versammelten uns vor dem Fenster wie hungrige Kinder vor einem All-you-can-eat-Buffet. Walker rüttelte an der Tür, doch sie war verschlossen.
»Lasst mich erst mal etwas Gefühl in meine Finger zurückbringen, dann mache ich euch das Schloss in einer Minute auf«, sagte Honey.
Ich rüstete hoch und trat die Tür ein. Mein goldener Fuß riss die Tür aus den Angeln und ließ sie mehrere Meter in den Laden hineinfliegen. Ich rüstete wieder ab. Die anderen sahen mich an. Sie hatten sich noch nicht daran gewöhnt, mich in der Rüstung zu sehen, und an all die Dinge, die ich dann tun konnte. Gut. Das hielt sie respektvoll und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Vielleicht dachten sie dann zweimal darüber nach, bevor sie sich gegenseitig umbrachten. Honey sah beinahe neidisch aus, dass ich so etwas Nützliches besaß und sie nicht. Immerhin hatte es ihr gelbes Tauchboot um Längen geschlagen. Walker sah nachdenklich aus. Peter hielt Abstand und versuchte so zu tun, als starre er nicht auf den Torques an meinem Hals.
Im Laden griffen wir uns die dicksten Mäntel, die wir finden konnten, und nahmen sie den Schaufensterpuppen ab. Wir wickelten uns dick darin ein und stöhnten beinahe vor Vergnügen. Dann verbrachten wir einige Zeit damit, auf und ab zu laufen, die pelzigen Arme um uns geschlungen, während die Wärme langsam in unsere frierenden Körper zurückkehrte. Wir fluchten und schnitten Grimassen, als das Gefühl beißend in unsere tauben Extremitäten zurückkehrte. Als wir unsere Hände wieder fühlen konnten, schnappten wir uns alte Mützen, schwere Lederhandschuhe und lange Wollschals. Wir waren zwar nicht mehr draußen im bitterkalten Wind, aber dennoch dampfte unser Atem auch hier in der feuchtkalten Ladenluft. Walker schlug vor, die Möbel zu zerschlagen, um ein Feuer zu machen, aber ich musste ablehnen. Ich wollte nichts tun, was auf uns aufmerksam machte. Noch nicht. Peter hatte sich selbst unter dem dicksten Mantel begraben, den er hatte finden können, zusammen mit einer viel zu großen Pelzmütze und einem halben Dutzend Halstüchern. Die Farbe war langsam in sein Gesicht zurückgekehrt und das Eis auf seinen Wimpern war geschmolzen. Er bemerkte, wie ich ihn ansah, und sah mürrisch zurück.
»Mir ist immer noch kalt«, sagte er gedämpft durch seinen hochgezogenen Schal. »Und ich habe echt Hunger.«
»Außerdem siehst du total unmodisch aus«, meinte Honey. Unglaublicherweise hatte sie einen weißen langen Pelzmantel gefunden, der genauso aussah wie der, den sie in Arkansas zurückgelassen hatte. Und einen passenden weißen Pillbox-Hut, weiße Handschuhe und weiße Lederstiefel. Irgendwo lag ein nackter Eisbär zitternd in seiner Höhle und verfluchte die Menschheit.
Walker sah smart, aber leger aus, was in altrussische Schneiderkunst gehüllt nicht ganz einfach war, ging diese doch eher Richtung Kraft statt auf Qualität. Er sah auf die altmodische Registrierkasse mit messingfarbenen Tasten, die auf dem Tresen stand, und runzelte die Stirn.
»Meinen Sie, wir sollten … etwas hier lassen? Als Bezahlung? Sonst fühlt sich das so nach Stehlen an.«
»Für wen sollten wir es zurücklassen?«, fragte Honey. »Es ist niemand mehr da.«
»Das ist wirklich komisch«, sagte Peter aus den Tiefen seines überdimensionalen Pelzmantels. »Als wären alle einfach aufgestanden und gegangen. Vielleicht haben sie ja ein paar Konservendosen dagelassen. Gibt's auch einen Dosenöffner in dieser Rüstung, Drood?«
»Wie können Sie schon wieder Hunger haben?«, fragte Walker. »Sie hatten doch erst vor ein paar Stunden ein Stück wunderbaren, verkohlten Biber.«
»Ich versuche angestrengt, das zu vergessen«, erwiderte Peter. »Hört zu, ich bin so hungrig: Wenn wir jetzt in dieser Stadt auf ein Monster treffen, werde ich es töten, häuten und es komplett aufessen. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ehrlich, wir sollten verdammt schnell ein Monster finden, weil ihr Jungs zunehmend appetitlich ausseht!«
Mit der neuen Wärme kam auch unsere Kraft wieder zurück, und wir gingen hinaus auf die Straße. Eine Richtung schien so gut zu sein wie jede andere. Ich fragte mich immer noch, wonach wir hier suchen sollten, was das besondere Rätsel war, wegen dessen Alexander King uns hergeschickt hatte. »Wonach genau suchen wir eigentlich?«, fragte Walker.
Ich zuckte mit den Achseln, auch wenn man das unter meinem schweren Mantel kaum sehen konnte. »Wenn wir da sind, wo ich denke, dass wir sind, dann sind wir relativ weit von der Gegend entfernt, in der der Tunguska-Meteor eingeschlagen ist. Also nehme ich an, wir sind hier, um herauszufinden, was mit dieser Stadt, X25, passiert ist. Allerdings denke ich im Großen und Ganzen, dass ich meinen Willi lieber in eine Steckdose stecken würde, als das zu tun.«
»Sie haben immer noch nicht richtig erklärt, was das Problem mit dieser Stadt ist«, sagte Walker. »Warum wurde sie hier draußen gebaut, mitten im Nirgendwo? Ich dachte, die Sowjets haben Sibirien nur für ihre Zwangsarbeitslager gebraucht. Was ist hier passiert, Eddie? Wo sind alle?«
»Naja«, sagte ich widerwillig. »X25 war eine aus einer ganzen Reihe von geheimen Wissenschaftsstädten, die alle keinen offiziellen Namen trugen, nur eine Bezeichnung. Keine von ihnen existierte offiziell, höchstens auf sehr geheimen Karten in sehr geheimen Büros. Das Bauprogramm begann in den Fünfzigern, auf der Höhe des Kalten Krieges. Wissenschaftler auf beiden Seiten waren damals Soldaten, ihre Entdeckungen Munition für den Krieg. Die Wissenschaftsstädte wurden mithilfe der Zwangsarbeit der Lagerinsassen gebaut, absichtlich meilenweit von jeder Zivilisation entfernt. Teilweise aus Sicherheitsgründen, teilweise, weil einige der Experimente so extrem waren, dass nicht einmal die sowjetische Bevölkerung davon hätte erfahren dürfen; aber hauptsächlich aus dem Grund, den Schaden einzudämmen, falls einmal etwas so richtig schiefgehen sollte. Besonders, wenn man die ganze Stadt schließen oder zu Staub zerblasen musste, um unter dem Deckel zu halten, was passiert war. Das ist mehr als einmal vorgekommen, wie ich sicher weiß.«
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