»Wo zur Hölle hat uns dein Großvater diesmal hingeschickt?«, zwang Honey eine Frage über ihre tauben Lippen, als sie ihre Hände gegeneinander schlug, um ihren Kreislauf anzuregen.
»Frag mich nicht«, erwiderte Peter. »Du bist diejenige mit einem Computer im Kopf.«
»Kein Wunder, dass ihr Area 52 in die Antarktis verlegt habt«, bemerkte Walker zu Honey. »Der sicherste Platz für die Alien-Technologie, die ihr über die Jahre hinweg gesammelt habt und von der ihr noch nicht wisst, wie sie funktioniert.«
»Eins nach dem anderen«, sagte ich schnell. »Wir müssen einen Unterschlupf finden, oder allein der kalte Wind wird uns den Garaus machen. Weiß jemand, wie man ein Iglu baut?«
»Ich glaube, dafür braucht man Schnee, oder?«, fragte Peter.
»Kontaktieren Sie Langley!«, forderte Walker Honey auf. »Sie sollen rausfinden, wo wir sind und uns dann eine Überlebensausrüstung schicken.«
»Das habe ich versucht!«, presste Honey durch ihre gegen das Klappern zusammengebissenen Zähne hindurch. »Sie antworten nicht. Ich schnappe überhaupt keine Kommunikation auf. Das Beste, was ich diagnostizieren kann, ist, dass etwas das Trägersignal blockiert. Das würde eine Menge Kraft erfordern, also muss die Quelle in unmittelbarer Nähe sein.«
»Gut«, sagte Peter. »Dann gehen wir gleich dahin und werden warm. Bevor Körperteile, an denen ich sehr hänge, abfrieren.«
»Sieh dich um«, sagte ich. »Hier ist nichts außer Bäumen. Wir sind allein hier draußen.«
»Was?« Peter sah sich panisch um. »Aber irgendetwas muss hier sein!«
»Vielleicht sollten Sie nicht gar so laut in Panik ausbrechen«, murmelte Walker. »Es ist schlimm genug, dass man bis auf die Knochen friert, man muss auf einem Ohr nicht auch noch taub werden.«
»Ach, leck mich doch«, sagte Peter. »Ich kann nicht mal mehr meine Eier spüren!«
»Also, wenn das ein Hilferuf war, dann stehst du allein da«, meinte Honey.
»Ich glaube, wenn man Schnee draufreibt, dann kann man Frostbiss vermeiden«, fügte ich hinzu.
»Reib doch deine eigenen damit ein!«, meinte Peter ungnädig. »Meine sind kalt genug, so wie sie sind!«
»Einige Leute wollen sich eben einfach nicht helfen lassen«, sagte Walker.
»Lasst mich mal was versuchen«, sagte ich.
Ich zwang mich aus der relativen Wärme der Gruppe heraus, murmelte die aktivierenden Worte und rüstete auf. Die goldene, seltsame Materie glitt im selben Moment vom Scheitel bis zur Sohle über mich. Es war, als versänke ich in einem gut geheizten Pool. Ich keuchte auf, als die Rüstung mich vor dem Wind und der Kälte isolierte, und konnte merken, wie das Gefühl in meine tauben Extremitäten zurückkehrte. Ich biss die Zähne zusammen, denn es stach wie tausend Nadeln, während mein Kreislauf wieder in Schwung kam. Durch meine gesichtslose goldene Maske sah ich mich langsam um. Die Maske verstärkte meine Sicht, sodass ich kilometerweit sehen konnte. Meine Augen schossen über den toten und gefrorenen Boden. Immer noch war nichts zu sehen, bis ich schließlich auch mein zweites Gesicht einsetzte. Und erst dann entdeckte ich eine schwache Strahlung in der Ferne. Eine Energiequelle dieser Größe und Stärke versprach eine mittelgroße Stadt. Aber sie war etwa elf oder zwölf Kilometer entfernt; zu Fuß, durch kalte und tote Wildnis.
Unter normalen Umständen wäre das ein ausgedehnter Spaziergang gewesen. Hier war es vielleicht das Todesurteil für einige von uns.
Ich rüstete ab und keuchte auf vor Schock und Schmerz, als mich die grauenvolle Kälte wieder erwischte. Ich wies mit einer zitternden Hand in Richtung Nordwest.
»Da ist eine Stadt, in dieser Richtung. Glaube ich. Ich kann nicht sagen, wie wir aufgenommen werden, aber es ist unsere beste Chance. Ach zum Teufel, es ist unsere einzige Chance.«
»Wie weit?«, fragte Walker.
»Elf Kilometer. Höchstens.«
Wir sahen uns an. Keiner sagte etwas. Keiner musste das tun. Wir alle wussten, was das hieß.
»Lasst uns gehen«, sagte ich. »Je eher wir da sind, desto eher können wir uns vor einem großen, wunderbaren Feuer mit einem steifen Grog und einem dampfenden Käsefondue einkuscheln.«
»Fondue«, murmelte Peter geringschätzig, als wir losgingen. »So was Beklopptes. Das ist doch bloß Brot und Käse, wenn man's genau nimmt.«
Ich ging durch die Bäume voran und die anderen stolperten hinter mir her. Wir konnten uns nicht einmal mehr wegen der Wärme aneinander kuscheln, der unebene Boden ließ uns ständig stolpern. Für eine ganze Weile also kämpften wir uns schweigend vorwärts, mit gebeugten Köpfen, um unsere empfindlichen Gesichter aus dem schneidenden Wind herauszuhalten und unsere Energie so gut wie möglich zu sparen. Der unnachgiebige Boden machte jeden Schritt zu einer Anstrengung; es war, als würde man am Meeresboden mit Ketten um die Knöchel laufen. Kein Laut war irgendwo im Wald zu hören. Kein Vogelgesang, nicht der leiseste Ruf eines Tiers. Als wären wir vier die einzigen lebendigen Wesen in diesem toten, verlassenen Land. Meine Füße wurden so taub, dass ich fest auf den Boden stampfen musste, um sie zu spüren und dann wurden meine Beine so müde, dass ich nicht einmal mehr das tun konnte. Ich ging dennoch weiter. Klagen halfen nicht und würden nur Energie kosten, die ich nicht entbehren konnte. Außerdem sollte mich der Teufel holen, wenn ich der Erste war, der anhielt und eine Pause brauchte.
Nicht zuletzt aus folgendem Grund: Ich war nicht sicher, ob wir dann alle in der Lage wären, wieder aufzustehen. Wirkliche Kälte ist konstant und unerbittlich, und sie tötet einen Zentimeter für Zentimeter, wenn man nicht aufpasst.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass Honey ein wenig aufgeholt hatte, um neben mir herzutrotten. Ich hob meinen Kopf ein wenig, um sie anzusehen. Honeys kaffeefarbene Haut war vor Kälte grau geworden, und ihre Augen hatten einen erschöpften, verletzten Blick.
»Warum trägst du nicht deine Rüstung?«, fragte sie mich plötzlich. »Dann würde dir die Kälte nichts ausmachen.«
»Ich habe mich entschieden, das nicht zu tun«, sagte ich. Meine Lippen waren so taub, dass ich jedes Wort sorgfältig und konzentriert formen musste. »Weil … wir als Team zusammenarbeiten müssen. Zusammen arbeiten, zusammen etwas erreichen. Als Gleiche, die einander respektieren. Weil wenn wir ein Team sind … werden wir vielleicht aufhören, einander zu töten.«
»Du hast nicht eine Minute geglaubt, dass Katts oder Blues Tod Unfälle waren, oder?«
»Nein. Du?«
»Natürlich nicht. Ich bin bei der CIA. Wir werden darauf gedrillt, in jeder Situation und bei jedem Plan das Schlimmste anzunehmen. Und du hast den Autonomen Agenten gehört. Nur einer von uns kann zurückkehren und den Preis einstreichen. Einander zu töten ist ab einem bestimmten Punkt unvermeidlich.«
»Töten ist niemals unvermeidlich«, sagte ich grob. »Ich bin ein Agent und kein Killer.«
Honey warf mir einen bedeutungsvollen Blick unter ihren eisverklebten Augenwimpern zu. »Glaubst du wirklich, dass du diese Gruppe davon abhalten kannst, einander an die Kehle zu gehen?«
»Klar. Ich bin ein Drood. Ich kann alles. Ich habe das auch schriftlich, irgendwo.«
»Du könntest deine Rüstung anlegen«, meinte Honey. »Und in die Stadt vorlaufen und Hilfe holen.«
»Keiner kann sagen, wie lang das wohl dauert. Oder wie viele von euch noch am Leben wären, wenn ich wiederkäme.«
»Du kannst nicht für uns alle sorgen.«
»Das wirst du ja sehen.«
Sie kicherte kurz. »Du bist ein guter Mann, Eddie Drood. Aber wie du jemals ein aktiver Agent werden konntest, liegt jenseits meiner Vorstellungskraft.«
»Ich habe den Prüfer bestochen.«
Wir gingen weiter, kämpften um jeden Schritt und jeden Atemzug und zwangen unsere langsam absterbenden Körper durch den toten Wald. Ich verlor mein Zeitgefühl. Die Sonne schien immer über uns zu sein, die Schatten bewegten sich nicht, und ein Teil des Waldes sah aus wie der andere. Keine besonderen Landmarken, nichts, das man anpeilen konnte. Nichts, was anzeigte, dass wir weitergekommen waren. Wir standen alle dicht vor dem Zusammenbruch. Das letzte bisschen unserer gesammelten Kraft verbrauchte sich und nur Willenskraft und brutale Sturheit hielten uns aufrecht. Keiner beklagte sich, fluchte oder bat um Hilfe. Wir waren immerhin Profis.
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