»Darum hat Großvater uns hergeschickt«, sagte Peter. »Das Geheimnis der Kreatur ist gelöst. Kein Bigfoot, sondern ein Hyde. Natürlich müssen wir es noch mit der Kamera aufzeichnen, um alles zu beweisen.«
Unsere Köpfe fuhren herum, als wir hörten, wie sich etwas draußen in der Dunkelheit bewegte. Es umkreiste uns, langsam und gemächlich, und gab sich keine Mühe mehr, seine Bewegungen zu verbergen. Es wollte, dass wir wussten, dass es da war. Es beschrieb einen perfekten Kreis um uns herum, blieb aber außerhalb des Lichts, als ob es uns einschätzen wollte und entschieden hatte, dass wir keine Bedrohung seien. Und dann hielt es an. Die schwere Stille der Nacht kehrte zurück. Was konnte so schrecklich sein, dass jedes Tier und jeder Vogel des Waldes Angst hatten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?
»Es ist direkt vor mir«, sagte der Blaue Elf leise. »Es beobachtet mich.«
Ich strengte mich an, durch die Stille etwas zu erlauschen, und allmählich konnte ich ein verhaltenes, heftiges Atmen hören; eher das eines Tieres als eines Menschen.
»Das kann kein Hyde sein«, sagte ich. »Kein echter. Jekyll war in seinen Tagebüchern sehr deutlich. In Edward Hyde hatte alles Böse, was in einem Menschen steckt, Form angenommen. Gesteuert von Instinkt, beherrscht vom Freudschen ›Es‹, völlig unbelastet von Gedanken an die Konsequenzen oder einem Gewissen; ein Mann mit dem Zeichen des Tiers. Nichts als Wut, Lust, Hass und der Wunsch zu töten.«
»Wie deine Tulpa?«, fragte Peter.
»Schlimmer«, sagte Blue. »Viel schlimmer.«
»Eddie hat vielleicht recht«, meinte Walker. »Wenn das ein Hyde ist, warum hat er uns noch nicht angegriffen?«
»Kann er ja mal versuchen«, sagte Honey. »Ich werde ihm in seinen widerlichen Arsch treten.«
»Nein, ihr versteht nicht«, sagte ich. »Sasquatche töten nicht. Es gibt keine einzige Aufzeichnung darüber, dass je ein Sasquatch einen Menschen getötet hätte. Nicht hier und auch sonst nirgendwo.«
»Aber wenn ich mich recht an diese Fernsehsendung erinnere, hat diese Kreatur ein ganzes Haus voller Leute terrorisiert«, meinte Honey.
»Und wie sollte er auch hier draußen in der Wildnis Leute umbringen können?«, fragte Walker. »Wenn er zurück in seine Heimatstadt käme, dann würden ihn die Menschen dort wahrscheinlich bei Sichtung abknallen. Hydes sind vielleicht brutal, aber sie sind nicht dumm. Er würde wissen, dass er hier in den Wäldern sicher ist und seine Aggressivität an der Wildnis ausleben.«
»Aber warum hat er uns noch nicht angegriffen?«, fragte Honey.
»Weil ihm das Spaß macht«, sagte Blue.
»Wir müssen ihn vorlocken, ins Licht«, sagte ich. »Wir müssen genau sehen, womit wir es zu tun haben.«
Der Blaue Elf sah mich zum ersten Mal an. »Du willst einem ausgewachsenen Hyde in die Augen sehen? Dem reinen Bösen in menschlicher Form? Aber ich bin sicher, du weißt es am Besten. Du bist ein Drood, du weißt ja alles. Also los. Ich bin dann allerdings schon meilenweit weg und renne mit Hochgeschwindigkeit in Richtung Horizont.«
»Wo ist denn dein Stolz?«, fragte ich ziemlich gereizt.
»Und wo dein gesunder Menschenverstand?«, fragte der Blaue Elf zurück.
»Wir beide tragen einen Torques«, sagte ich geduldig. »Uns kann nichts verletzen.«
»Glaub da nur weiter dran«, sagte Blue. »Ich werde mein Vertrauen lieber in ein Paar guter Joggingschuhe setzen.«
»Unglücklicherweise bin ich derselben Meinung wie der Drood«, sagte Peter. »Wir brauchen Beweise darüber, was dieses Wesen wirklich ist, und auch wenn ich meine Kamera schon vorbereit habe, damit wir ein gutes Foto kriegen, muss dieses Ding erst mal ins Licht kommen. Ich hätte, um ehrlich zu sein, gern auch einige Vorher-Nachher-Fotos und vielleicht sogar einen Film von der tatsächlichen Transformation.«
Ich hasste es, einer Meinung mit dieser nervenden kleinen Knalltüte zu sein, aber er hatte recht. »Ich könnte hochrüsten, ihn hierher zerren und ihn am Boden festhalten«, meinte ich. »Hydes sind vielleicht groß und brutal, aber sie bestehen immer noch aus Fleisch und Blut. Meine Rüstung sollte mit ihnen fertig werden.«
»Wenn du hochrüstest, haut er ab«, sagte der Blaue Elf. »Und in der Dunkelheit findest du ihn nie.«
»Ich bin nach wie vor nicht sehr glücklich damit, dieses Ding zu nah an uns herankommen zu lassen«, sagte Walker. »Hydes wollen nichts als töten.«
»Ich kenne einen Industriespion, hinter dem wir uns verstecken können«, sagte Honey.
Ein Laut erreichte uns aus der Dunkelheit. Es hätte ein Grollen, aber auch ein Kichern sein können. Etwas an dem Geräusch ließ meine Nackenhaare aufstehen. Das war nicht das Geräusch eines Menschen oder überhaupt irgendeines Wesens. In dem Geräusch selbst lag die Berührung der Hölle, und der Hyde wusste das und genoss es.
»Nun«, stellte Walker fest. »Eigentlich wollte ich ja die letzten Überreste meiner Stimme für einen echten Notfall aufheben, aber …« Er trat vor und wandte sich an die Finsternis direkt vor dem Blauen Elfen. »Du. Komm her.«
Ich erzitterte beim Klang seiner Stimmte. Ich glaube, das taten wir alle. Es war Walkers legendäre Stimmte, der man weder widersprach, noch missachtete man sie. Einige behaupten, dass sie Spuren der Urstimme enthielt. Der, die gesagt hatte: Es werde Licht. Ich mochte den Gedanken nicht. Es hätte zu viele Fragen aufgeworfen; wie die, woher Walker seine Stimme wirklich hatte. Die Finsternis selbst schien zu zögern, als ob sie widerstrebe, und dann kam der Hyde ins Licht geschlurft, gegen seinen Willen gezogen wie von einer Hundeleine oder wie ein Fisch am Haken. Er setzte einen Fuß vor den anderen und kämpfte dabei um jeden Zentimeter. Er hasste uns alle, aber dennoch kam er hervor und stand vor uns.
Es war eindeutig ein Mann, aber genauso eindeutig war er mehr und auch weniger. Er war größer als wir alle, schien aber kleiner zu sein, weil er sich vornüberbeugte. Sein riesiger, muskelbepackter Rücken wölbte sich zu einem Buckel, sein mächtiger knochiger Kopf hing vor der Brust. Er starrte uns bösartig mit blutunterlaufenen Augen unter hervorstehenden Brauen an. Langes, verfilztes, pechschwarzes Haar hing um ein grimmiges, hässliches Gesicht herum, in dem jede Sünde, die Menschen je begangen hatten, ihre Spuren hinterlassen hatte. Seine Kleider hingen in Fetzen, zerrissen und zerfetzt und mit Blut durchtränkt, das nicht sein eigenes war. Seine großen Hände waren dick mit getrocknetem Blut bedeckt, das wie grauenhafte Handschuhe bis hinauf zu den Ellbogen reichte. Ansonsten war seine Haut gerötet und spannte sich straff über den Körper. Pulsierende Adern waren darunter zu sehen. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen; stechend, schlau. Er lächelte ein kaltes, frohes Lächeln, in dem die gesamte Bosheit der Welt steckte.
Ihn auch nur anzusehen reichte aus, um den Wunsch zu wecken, ihn zu töten. Allein sein Anblick erfüllte mich mit Abscheu, Hass und Ekel; ein instinktives Bedürfnis, etwas anzugreifen und zu zerstören, das gar nicht erst auf der Welt existieren sollte. Etwas, das zu schrecklich war, um geboren zu werden, eine Abscheulichkeit, die den Planeten schändete. Er stand vor uns und all die verbotenen Bedürfnisse und Impulse der Menschen waren in ihm Fleisch und Blut geworden und auf die Welt losgelassen. Die schlimmsten Taten, die ein Mensch ohne Mitleid, Gewissen und ohne Furcht vor den Konsequenzen begehen konnte. All die boshaftesten Menschen der Welt - und das waren so viele - waren im Inneren nur ein Abglanz des Hydes.
Ich konnte spüren, wie mein Torques kalt um meinen Hals herum brannte, um mich vor einer Vergiftung durch die bloße Präsenz dieses Wesens zu schützen.
Beinahe instinktiv hatten wir fünf einen Kreis um den Hyde gebildet. Wie Jäger eine Beute umzingeln, die zu gefährlich ist, als dass man sie laufen lassen dürfte, auch wenn keiner von uns ihm zu nahe kommen wollte. Ich konnte die gleichen verwirrten Ausdrücke voller Angst und Ekel in den Gesichtern der anderen sehen und wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten, zuckten und zitterten in dem Wunsch, nach den Waffen zu greifen. Oder das schreckliche Ding vor ihnen mit den bloßen Händen zu töten. Ich wusste, was sie fühlten, denn ich fühlte genau dasselbe.
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