Im Stillen zählte MacNeil die Stufen mit und sehnte den Augenblick herbei, da er endlich wieder ebenen Boden würde betreten können. Er wusste: Es waren dreizehn Stufen. Für manche eine Unglückszahl. Unten angelangt, stellte er jedoch fest, dass auf die dreizehnte noch eine weitere Stufe folgte. Sein Puls beschleunigte sich und er musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig durchzuatmen. Offenbar hatte er sich beim ersten Gang verzählt; kein Grund zur Sorge. Eine Stufe mehr oder weniger… Aber mit der vierzehnten war die Stiege immer noch nicht zu Ende. Auch nicht nach der zwanzigsten… MacNeil blieb stehen und leuchtete mit der Laterne. Die Stiege fiel weiter ab ins Dunkle, und ein Ende des Schachts war nicht abzusehen.
»Was ist los?«, wollte Hammer wissen. »Warum bist du stehen geblieben?«
»Die Stiege…«, antwortete MacNeil. »Sie hat plötzlich viel mehr Stufen. Das Biest scheint wieder zu träumen.«
»Was machen wir da?«, fragte Jack. »Weitergehen und hoffen, dass wir irgendwann ans Ziel kommen?«
»Was bleibt uns anderes übrig?«, sagte MacNeil. »Es gibt keinen anderen Abstieg. Los, weiter. Es ist kalt hier.«
»Kalt wie in einem Grab«, meinte Jack.
MacNeil tat so, als hätte er nichts gehört und setzte sich wieder in Bewegung. Nach einer Weile hörte er zu zählen auf. Die hohen Zahlen machten ihn nur nervös. Sie waren schon sehr weit hinabgestiegen, doch die Stufen führten immer tiefer ins Dunkle. Es war bitterkalt und die Kälte nahm noch zu. Der Atem dampfte MacNeil in dicken Wolken vorm Mund. Raureif bildete sich an Haaren und Kleidern. Das Gesicht und die Hände waren ganz taub geworden und er musste fest zupacken, um das Schwert und die Laterne nicht aus den Händen zu verlieren. Der Verwesungsgeruch war zwar unvermindert stark, schien aber eine andere Note anzunehmen, die MacNeil sehr irritierend fand, unangenehm und lästig wie ein hartnäckiger Juckreiz. Der Gestank setzte ihm dermaßen zu, dass er drauf und dran war, mit dem Schwert in der Luft herumzuschlagen.
Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten…
MacNeil klammerte die Hand fest um den Schwertgriff, bis ihm die Finger schmerzten. Der Gestank, die Dunkelheit und das permanente Gefühl von Bedrohung erinnerten ihn an die Zeiten von Finsterholz, und für einen Augenblick meldete sich die alte Angst, die er aber sofort wieder abschüttelte. Er ging weiter und traf wenig später mit dem Fuß auf eine unebene Oberfläche. Im goldenen Licht der Laterne sah er die Öffnung eines Tunnels mit Wänden aus Erde. Vorsichtig rückte er näher und wartete darauf, dass die anderen zu ihm aufschlössen. Es war nicht der Tunnel, an den er sich erinnerte. Dieser hier war breiter und maß gut und gern drei Schritt im Durchmesser. In Decke und Wänden hatten sich lange Risse gebildet, aus denen Erde bröckelte.
Es schien, als drohte der Stollen jeden Moment in sich zusammenzustürzen.
»Nicht viel Platz zum Kämpfen«, sagte Hammer plötzlich und versetzte MacNeil damit einen Schreck.
»Nervös?«, grinste Hammer.
»Aus gutem Grund«, knurrte MacNeil. »Beim letzten Mal bin ich hier auf eine böse Überraschung getroffen.« Er schaute sich um. »Aber das war in einem anderen Stollen, in einem, der viel kleiner war, mit blutverschmierten Wänden… Vielleicht finden wir hier Hinweise auf die verschwundenen Leichen.«
»Oder das Gold«, sagte Hammer. »Das sollten wir nicht vergessen.« Er schürfte prüfend mit der Hand über die Wand, die unter seinen Fingern zerkrümelte. »Pfuscharbeit«, sagte er. »'ne Verschalung wäre das Mindeste gewesen.«
MacNeil sah ihn an. »Dieser Tunnel ist nicht von Menschen gebaut worden, Hammer, genauso wenig wie die Stiege. Das Biest rührt sich im Schlaf und wir laufen durch einen seinen Träume.«
Hammer schnaubte und stampfte mit dem Fuß auf den fest getretenen Stollenboden. »Ziemlich wirklichkeitsnah, dieser Traum.«
»Ja«, erwiderte Jack leise. »Hoffen wir, dass das Biest keine Albträume bekommt.«
Die drei Männer tauschten flüchtige Blicke. Hammers Hand griff nach dem Heft des Langschwertes, blieb aber auf halbem Weg stehen und fiel zurück. MacNeil räusperte sich, um zu überspielen, dass seine Stimme vor Beklommenheit ganz wacklig war.
»Kommt, weiter. Wir haben noch nichts erreicht, und womöglich wacht schon bald das Biest auf.«
»Mir kommt gerade ein unangenehmer Gedanke«, sagte Jack. »Wenn wir uns im Traum des Biests befinden, und es wacht auf… was wird dann aus diesem Tunnel?«
MacNeil warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Tu uns einen Gefallen und behalte deine unangenehmen Gedanken in Zukunft lieber für dich. Woher zum Teufel soll ich wissen, was passieren wird? Fürs Erste ist der Stollen greifbar und wirklich genug. Nur daraufkommt's an. Los jetzt. Wir vergeuden nur kostbare Zeit.«
Er ging weiter und trug die Laterne vor sich her, deren milder Schein erkennen ließ, dass sich der Tunnel geradeaus und mit leichtem Gefälle ins Dunkle erstreckte.
Furcht war für MacNeil immer eine beschämende Schwäche gewesen, der man nicht nachgeben durfte. Ein Problem, vor das man sich gestellt sah, galt es zu lösen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn auch das nicht half, war man aufgefordert, es nach einer Weile erneut zu versuchen, notfalls immer und immer wieder, bis sich endlich Erfolg einstellte. Aber wirklich große Furcht, überwältigende, lähmende Angst - die glaubte MacNeil bislang nie erfahren zu haben, allenfalls bei anderen, über die er dann die Nase rümpfte. Tief im Innern aber spürte er, dass dem nicht so war, dass auch ihn eine solche Angst einmal heimgesucht hatte, nämlich während der langen Nacht, als die Dämonen massenhaft aus der Dunkelheit hervorgeschwärmt waren und er mit seinem Schwert hatte dagegen halten müssen, obwohl er am liebsten schnell weggelaufen wäre. Und vielleicht hätte er tatsächlich Reißaus genommen, wäre nicht zu seiner Rettung der Blaumond unter- und die Sonne aufgegangen. Sonst hätte er womöglich Reißaus genommen…
Jetzt tappte er wieder im Dunkeln, umzingelt von Tod und Verwesung und in der Absicht, ein Ungeheuer zu erschlagen, das älter und mächtiger war als alle Dämonen zusammengenommen. Und weil er sich tief unter der Erdoberfläche befand, würde diesmal nicht auf Rettung in Gestalt der aufgehenden Sonne zu hoffen sein.
Nagende Furcht wand sich durch sein Gedärm und ließ kalten Schweiß auf die Stirn treten. Er spürte, wie die Hände zitterten, der Atem fahrig wurde. Die Angst war kaum zu bändigen. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und das Weite gesucht. Niemand würde ihm deswegen Vorwürfe machen. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten hätten bestimmt Verständnis für ihn, wenn er ihnen die Umstände schilderte. Manche würden wahrscheinlich sogar sagen, dass er das einzig Sinnvolle getan hätte. Allein, er brachte es nicht über sich wegzulaufen. Constance hatte gesagt, dass das Biest erschlagen werden müsse, bevor es zu spät wäre und es erwachte. Und MacNeil glaubte ihr. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen, und solange er sein Schwert fuhren konnte, würde er das tun, was er als das Richtige erkannt hatte. Gleichgültig, wie groß seine Furcht auch sein mochte.
Das Gefälle des Stollens nahm zu. MacNeil versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, wie tief er mittlerweile vorgedrungen war und welche Massen an Erde und Gestein auf dem Stollen lasteten.
»Wie weit runter müssen wir denn noch?«, murrte Hammer. »Wir sind doch schon eine Ewigkeit unterwegs.«
»Bald ist es geschafft«, antwortete Jack. »Wir sind nahe dran.«
MacNeil blieb plötzlich stehen und drehte sich um. »Constance sagte, dass du… Fähigkeiten hättest, die uns helfen könnten. Was sind das für Fähigkeiten, Jack? Bist du etwa auch hellsichtig?«
Jack zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab ein ganz gutes Gespür für den Wald und alles, was darin lebt.
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