»Das habe ich nicht vergessen, glaub mir.« MacNeil blickte auf den Eisberg über der Falltür. Die darin steckenden Fässer waren nur als Schatten zu erkennen. »Wenn Hammer auf dem Weg hierher ist, wär's gut, wenn wir die Falltür freigelegt hätten, ehe er zur Stelle ist. Wir sollten ihm immer einen Schritt voraus sein. Wenn er tatsächlich mit einem Infernaleisen bewaffnet ist, brauchen wir jeden kleinen Vorteil, den wir haben können.«
»Aber es vergehen Stunden, ehe wir das Eis gebrochen haben«, sagte Flint. »Und wer weiß, vielleicht ist auch der Schacht unter der Falltür voller Eis.«
»Nein«, entgegnete MacNeil. »Das hätte Constance gesehen.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wandte sich der Hexe zu und fragte: »Constance, könntest du vielleicht das Eis wegzaubern?«
»Ja«, antwortete Constance unumwunden. »Das kann ich. Aber ein solcher Akt würde mir so ziemlich alles abverlangen. Magie hat ihre Grenzen, und ich bin von meinen nicht mehr weit entfernt. Womöglich ist mir danach die Hellsicht genommen.«
»Tu's trotzdem«, sagte MacNeil.
Constance nickte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und rief ihre Zauberkraft auf, die nur langsam in Schwung kam, dann aber mächtig aufloderte. Daraufhin sprach Constance ein einziges Machtwort - und der Eisberg über der Falltür explodierte. Eissplitter spritzten durch den Raum, wovon aber die vier Ranger unbehelligt blieben. Von der Wucht der Explosion erschüttert, fielen auch einige Eiszapfen von der Decke und zerschellten am Boden. Lange Risse bildeten sich in den Eisschichten an den Wänden. Vorsichtig ließen die Ranger die Arme sinken, die sie schützend vors Gesicht gehoben hatten, und starrten auf die Falltür. Die Fässer waren geborsten und zersplittert. Inmitten der Trümmer lag, wie frei gekehrt, die Falltür.
»Sehr beeindruckend«, lobte MacNeil und nickte Constance anerkennend zu.
»Es hat mich auch einiges an Kraft gekostet.«
»Wie viel Magie hast du noch übrig?«
»Ein bisschen. Der Rest wird sich mit der Zeit wieder auffüllen.«
»Wie lange dauert das?«
Die Hexe zuckte mit den Achseln. »Mehrere Stunden, ein paar Tage. Hängt davon ab, wie groß die Belastung ist, unter der ich stehen werde.«
»Dann schon dich jetzt ein bisschen«, meinte MacNeil.
»Das würde ich auch gern«, murrte Flint. »Wann hatte ich das letzte Mal Zeit für mich selbst?«
MacNeil überhörte die Bemerkung und trat auf die Falltür zu. Er ging davor in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über die beiden Eisenriegel. Sie fühlten sich kalt an, aber nicht mehr so erschreckend widernatürlich wie bei der ersten Berührung. MacNeil schaute sich zu Flint und dem Tänzer um und schmunzelte, als er sah, dass sie zurückgetreten waren und ihre Schwerter gezückt hatten. Constance stand neben ihnen. Ihr Gesicht war entspannt, doch der Blick verriet Besorgnis. MacNeil schaute zurück auf die Falltür. Er dachte an die Riesen, die durch die dunklen Stollen gekrochen kamen, und erschauderte unwillkürlich. Er holte tief Luft und schob den ersten Riegel beiseite, was kaum Kraft erforderte und fast lautlos vonstatten ging. Ebenso einfach ließ sich auch der zweite Riegel verschieben. MacNeil schürzte die Lippen und fragte sich, ob es womöglich an Constances Zauber lag, dass sie so leichtgängig waren. Oder hatte das, was sich in den Tiefen versteckte, vielleicht ein Interesse daran, dass die Klappe geöffnet wurde? Trotz der Kälte waren MacNeils Handteller schweißnass. Er wischte sie an den Hosenbeinen ab, ehe er nach dem großen Eisenring in der Mitte der Falltür griff. Entschlossen packte er zu und zog an der Klappe, die leise knarrend um die Angeln kippte. Der Lukenausschnitt starrte vor Dunkelheit.
Als sein Blick auf die Unterseite der Tür fiel, presste MacNeil angewidert die Lippen zusammen. Das ramponierte Holz war voll von frischem Blut. Darin wanden sich Hunderte von Maden, und aus der Tiefe wehte ein Luftzug, der den Gestank verrotteten Fleisches mit sich führte. Flint stieß einen Fluch aus. Der Tänzer fuchtelte mit dem Schwert herum. Constance verzog keine Miene; sie stand reglos da wie eine Statue. MacNeil beugte sich über die Öffnung und starrte ins Dunkel. Erkennen konnte er nichts. Er wusste, dass eine hölzerne Stiege nach unten führte, doch auch davon war vor lauter Dunkelheit nichts zu sehen. Ihm war, als schaute er in sternenlose Nacht. Von Schwindel ergriffen, riss er seinen Blick von der Dunkelheit los. Im selben Moment hallte ein Schrei aus der Tiefe, der wie das Wiehern eines wild gewordenen Riesenpferdes klang. Immer lauter schwoll der Schrei an, bis er MacNeils Knochen zum Schwingen brachte. Dann brach er so urplötzlich ab, dass die Stille, die sich daran anschloss, überaus laut zu sein schien.
MacNeil warf die Klappe zu, schob die Riegel vor und wich zurück.
»Was zum Teufel war das denn?«, flüsterte der Tänzer.
»Das Biest«, sagte Constance. »Es dämmert im Halbschlaf vor sich hin.«
»Willst du wirklich da runter, Duncan?«, fragte Flint und starrte wie gebannt auf die Falltür.
»Ich weiß nicht«, antwortete MacNeil. »Aber mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig. Nur so lässt sich herausfinden, wo das Gold und die verschwundenen Leichen geblieben sind.«
»Ich bin nur am Gold interessiert, wenn ihr mich fragt«, bemerkte Hammer.
Die vier Ranger fuhren mit den Köpfen herum und sahen Hammer, Wilde und Vogelscheuchen-Jack vor der offenen Kellertür stehen. Wilde hatte einen Pfeil aufgelegt und den Bogen gespannt.
»Kommt näher«, sagte Constance lächelnd. »Wir haben auf euch gewartet.«
Hammer kniff die Brauen zusammen. An MacNeil gewandt, sagte er: »Legt eure Schwerter ab. Wilde, unser Meisterschütze, ist sehr schnell und schießt nie daneben.«
Der Tänzer kicherte. »Und ich bin ein Meister mit dem Schwert. Sag ihm, er soll den Bogen ablegen, sonst sorg ich dafür, dass er ihn frisst.«
Wilde zeigte sich unbeeindruckt. »Mit einem Schwertmeister bin ich auch schon fertig geworden. Es war nicht schwieriger als ein ganz gewöhnlicher Kampf Mann gegen Mann.«
Die Augen des Tänzers verjüngten sich zu Schlitzen. »Du warst das also. So weit ich weiß, war aber die Lage damals eine ganz andere. Nun ja, wer weiß. Komm, Wilde, versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.«
Wilde grinste aus freudlosen Augen.
»Lass es lieber bleiben, Edmond«, sagte Flint und trat einen Schritt vor, um sich Wilde zu zeigen. Er war überrascht, sie zu sehen, und senkte den Bogen.
»Hallo, Jessica. Wir haben uns lange nicht getroffen, nicht wahr?«
»Neun oder zehn Jahre.«
»Stimmt. Ist schon ein Weilchen her. Du siehst gut aus, Jess.«
»Moment mal.« Der Tänzer ließ den Blick zwischen Flint und Wilde hin und her pendeln. »Ihr kennt euch?«
»O ja, sehr gut sogar«, antwortete Wilde grinsend. »Was meinst du, Jess?«
»Das ist lange her«, sagte Flint. »Seitdem hat sich einiges geändert. Du zum Beispiel, Edmond. Wie kommt's, dass du dich mit einem Schuft wie Hammer herumtreibst?«
Wilde ließ die Schultern zucken. »Ich bin ihm was schuldig.«
»Du warst ein Held«, sagte Flint. »Was ist nur passiert?«
»So vieles, dass ich darüber die Orientierung verloren habe«, antwortete Wilde.
»Verzeiht, wenn ich mich in eure private Wiedersehensfeier einmische«, sagte Hammer. »Aber ich habe hier Geschäfte zu erledigen.«
»Willst du's dir nicht noch mal überlegen?«, fragte Jack leise. »Vier Ranger, und einer von ihnen ist Schwertmeister. Unsere Chancen stehen schlecht, Hammer. Ich schlage vor, wir ziehen uns schnellstens zurück.«
»Halt's Maul«, blaffte Hammer. »Sergeant MacNeil, vielleicht sollten wir mal ein paar Takte miteinander reden.
Unter vier Augen.«
»Gute Idee«, sagte MacNeil. »Da vorne bei der Falltür wären wir ungestört.«
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