»Ich glaube nicht. Es träumt nur, und zwar von der Zeit, als es noch durch die Welt gegangen ist.«
MacNeil ging vorsichtig auf die eisüberzogenen Fässer zu. Die anderen Ranger verteilten sich ebenso vorsichtig im Raum. MacNeil setzte die Laterne ab, zog sein Schwert, nahm die Klinge in beide Hände und hackte mit dem Heft so wuchtig auf die Kruste ein, dass Eissplitter durch die Luft stoben. Doch schnell wurde klar, dass die Kruste zu dick war und dass es viel zu lange dauern würde, die Fässer auf diese Weise freizulegen.
An die Hexe gewandt, sagte er: »Konzentrier dich, Constance. Was siehst du jetzt unter der Falltür.«
Die Hexe schloss die Augen. Ihr magisches Gesicht tat sich weit auf.
Die Falltür bestand aus fest verfugten Eichenbrettern und war mit dicken Eisenstangen verriegelt. Unter der Tür machte sich Dunkelheit breit und in der kalten Tiefe regte sich etwas, das schlief. Es träumte in einem fort und gewann an Kraft, je weiter es aus seinem Schlaf, der schon Jahrhunderte andauerte, auftauchte; und seine Träume wurden immer deutlicher in der erwachenden Welt. Obwohl es noch schlief, spürte das Biest, dass es beobachtet wurde, und Constance zog sich zurück, als sich ein einziges großes Auge langsam zu öffnen begann.
Sie brach den magischen Kontakt ab, schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Dank ihrer Hellsicht hatte sie eine Vorstellung von den Gedanken und Absichten des Biestes gewonnen - und sie ahnte, dass ein Blick in das aufwachende Auge schlimmer sein würde als der Tod.
»Na? Was hast du gesehen?«, fragte MacNeil.
Constance schüttelte den Kopf. »Die Stollen sind leer. Was immer sich darin verbirgt, muss ganz tief in der Erde stecken.«
»Irgendwelche Anzeichen auf das Gold?«
»Nein. Aber ich glaube jetzt zu wissen, was hier im Fort vorgefallen ist.« Sie musste kräftig schlucken. Die Zunge klebte ihr am Gaumen und ihr war übel. Selbst der nur sehr flüchtige Einblick in das Wesen des Biests hatte ein Gefühl unaussprechlichen Ekels bei ihr hinterlassen. Flint und der Tänzer sahen einander an. MacNeil wartete geduldig ab. Constance holte Luft. Allmählich fasste sie sich wieder, und als sie schließlich den Mund aufmachte, sprach sie mit ruhiger, beherrschter Stimme. Nur ihre Augen verrieten noch den Schrecken über das, was sie entdeckt hatte.
»Zuerst dachte ich, es sei ein Dämon. Aber es ist noch viel älter. Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten. Selbst die Entstehung von Finsterholz hat seine Träume kaum gestört. Doch dann kamen die Menschen; sie bauten ein Fort über seinem Schlafplatz und lärmten in ihren Gedanken so sehr, dass es nicht mehr darüber hinweghören konnte. Es rührte sich in seinem Schlaf und seine Träume schwärmten aus und fanden Nahrung unter denen, die bei wachem Verstand waren. Mit anderen Worten: Über diese Träume verloren alle, die hier wohnten, den Verstand. Und in ihrem Wahn töteten sie sich gegenseitig. Dadurch gewann das Wesen an Kraft und holte die Toten zu sich. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht als Nahrung für den Fall, dass es aufwache.
Oder als Köder… ich weiß nicht. Jedenfalls wird es in absehbarer Zukunft erwachen. Seine Träume nehmen in der realen Welt konkrete Gestalt an und üben Einfluss aus. Und wenn das Wesen erst einmal wach ist… wird die Welt, wie wir sie kennen, untergehen.
Sie blickte zu MacNeil auf. »Du musst es töten, Duncan. Und zwar bald, bevor es aufwacht und seine volle Macht entfaltet. Steig runter ins Dunkel und töte das Biest.«
MacNeil starrte sie an. Ihm fehlten die Worte. Er wollte nicht wahrhaben, was sie sagte, ahnte aber, dass es die Wahrheit war. In ihrem Gesicht, in den Augen lag ein Ausdruck, der für Zweifel keinen Raum ließ.
Schließlich sagte er: »Wenn es so alt und so gefährlich ist, wie soll ich es dann töten können? Dazu brauchte man schon eine ganz besondere Waffe, zum Beispiel eins dieser verfluchten Höllenschwerter, die aber längst verschollen sind.«
»Nein«, widersprach Constance. »Eins gibt es noch. Es befindet sich sogar hier bei uns im Fort, und zwar im Besitz eines Mannes namens Jonathon Hammer.«
»Hammer?« Giles war sichtlich überrascht. »Der soll hier sein?«
»Kennst du diesen Mann?«, fragte MacNeil.
»Wir haben von ihm gehört«, antwortete Flint. »Er ist ein Söldner - und stolz darauf. Verdingt sich dem, der ihm das meiste Geld bietet, und stellt keine Fragen. Er würde selbst seine Mutter töten, wenn der Preis stimmt.«
»Er hält sich für einen guten Schwertkämpfer«, steuerte der Tänzer als Neuigkeit bei.
»Ist er das denn auch?«, fragte MacNeil.
Der Tänzer zuckte mit den Achseln. »Er ist ganz gut. Aber ich bin besser.«
MacNeil wandte sich wieder an Constance. »Wie kommt einer wie der an eins dieser Infernaleisen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete die Hexe. »Die Waffe schirmt sich vor meiner Hellsicht ab. Aber so viel ist sicher: Sie befindet sich zurzeit hier im Fort und steht diesem Hammer zur Verfügung. Er wird sie hierher in den Keller bringen, und dann werdet ihr, du und Hammer, hinabsteigen und das Biest töten. Andernfalls wären wir alle verloren.«
Sie wandte sich ab und starrte auf die Fässer, die, immer noch von einer dicken Eiskruste überzogen, die Luke verbarrikadierten. Ihr Blick war wieder ganz entrückt. MacNeil winkte Flint und den Tänzer zu sich. Sie zogen sich in den gegenüberliegenden Winkel des Raums zurück und tuschelten im Flüsterton miteinander.
»Können wir uns denn auf ihre Hellsicht verlassen?«, fragte Flint.
»Schwer zu sagen«, antwortete MacNeil. »Sie ist natürlich nicht so erfahren wie Salamander, hat aber zweifelsohne eine große magische Kraft. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.«
»Aber was soll dieser ganze Unsinn von Träumen, die wahr werden?«, fragte der Tänzer. »Glaubst du das auch?«
»Es wäre eine Erklärung für das, was hier passiert ist«, antwortete MacNeil.
»Ich glaube ihr kein Wort«, sagte Flint. »Im Dämonenkrieg hab ich ein paar ziemlich scheußliche Dinge aus der Erde steigen sehen. Ich war dabei, als Prinz Harald und Prinzessin Julia ein solches Scheusal mit ihren Infernaleisen erlegt haben, mit Mühe und Not, denn selbst diese Höllenschwerter hätten fast nicht ausgereicht.«
»Da ist noch etwas«, sagte MacNeil mit gekrauster Stirn. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Söldner Hammer tatsächlich eine solche Waffe in seinem Besitz hat. Soviel ich weiß, sind Blitzstrahl und Wolfsfluch seit dem Dämonenkrieg verschollen. Oder?«
»Ja«, bestätigte Flint. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf Nimmerwiedersehen in eine tiefe Erdspalte fielen.«
»Und der Steinbrecher wurde, wie es heißt, vom Schwarzen Prinzen vernichtet«, bemerkte der Tänzer.
»Es gab ursprünglich sechs von diesen Eisen«, sagte MacNeil. »Darin stimmen alle Berichte überein. Es könnte sein, dass eine der drei verschollenen Waffen wieder aufgetaucht ist.«
»In dem Fall könnte Hammer in der Tat an eine gelangt sein«, erwiderte Flint. »Er soll immer äußerst viel Glück haben. Aber wenn von dem, was ich über die Infernaleisen gehört habe, nur die Hälfte wahr wäre, würde ich ihn nicht beneiden. Diese Schwerter sind, wie es heißt, überaus böse und tückisch.«
»Ja«, sagte der Tänzer. »Genauso wie Hammer selbst.«
MacNeil winkte ab. »Ach, machen wir uns nicht verrückt. Soll er doch erst einmal kommen. Dann wird uns schon noch was einfallen. Bis es so weit ist, könnten wir uns weiter nach dem Gold umsehen. Wenn es sich da unten in den Stollen bei diesem Unwesen befindet…«
»Falls es sich da befindet«, fiel ihm Flint ins Wort. »Die Hexe weiß es auch nicht genau. Es könnte natürlich sein, dass das Biest den Schatz als Köder nutzt.«
»Wie passt denn das zusammen?«, sagte der Tänzer. »Es schläft doch angeblich.«
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