Er ging weiter, ohne Richtung, ohne Interesse, und es war ihm alles einerlei. Dass er sich bewegte, reichte, um ihn zufrieden zu stellen. Immerhin hatte er so das Gefühl, tätig zu sein. Schließlich gelangte er jenseits der letzten Stände an den Rand des Marktplatzes.
Auf engem Raum drängten sich dort ein paar kleine Zelte und Gerätschaften, die nicht gebraucht wurden. Vor einem der Zelte sah er ein Mädchen. Es trug ein schwarz-rotes Kleid mit tiefem Ausschnitt, das ihm sehr gut stand. Es hatte pechschwarze Haare und hellblaue Augen. Obwohl kaum älter als fünfzehn Jahre, bewegte es sich schon sehr fraulich. Bauernkinder wurden schnell erwachsen. Das verlangten die Umstände, denn wer nicht schnell erwachsen war, wurde es nie. Ein Mädchen in diesem Alter war für gewöhnlich schon verheiratet und dabei, eine eigene Familie zu gründen.
Sie schaute auf den Boden, als Wilde den Blick auf sie richtete, und es entging ihm nicht, dass ein Lächeln über ihr Gesicht huschte und die Augen strahlten. Er wusste solche Zeichen zu deuten und ging langsam auf sie zu.
Einen Ehering schien sie nicht zu tragen, was aber in dieser ärmlichen Region nichts besagte. Jedenfalls hatte Wilde keine Lust, sich auf Ärger mit einem eifersüchtigen Ehemann einzulassen. Aber er war gelangweilt und wütend auf sich und die Welt; und außerdem hatte er eine Stunde Zeit totzuschlagen. Hoffentlich hat sie keine Flöhe, dachte er. Er gesellte sich zu ihr, lächelte sie an, sagte ihr Nettigkeiten, die er so nicht meinte, und am Ende gingen sie ins Zelt hinein. Darin war es kühl und angenehm schummrig. Das Mädchen zauderte nicht lange und gab ihm einen innigen Kuss auf den Mund. Dann wandte sie sich ab und knöpfte das Kleid auf. Wilde legte Bogen, Köcher und Schwert vorsichtig aus der Hand, zog das Hemd aus und warf es achtlos zu Boden. Sie wartete, bis ihm die Hose auf die Knöchel gerutscht war. Plötzlich wirbelte sie herum und stieß ihn zurück. Wilde wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Er sah in ihrer Hand ein Messer aufblitzen, mit dem sie ihm den Geldbeutel vom Gürtel abschnitt. Und schon wandte sie sich dem Zeltausgang zu.
Mit wütendem Gebrüll hechtete er hinter ihr her und bekam sie beim Fußgelenk zu fassen. Sie giftete ihn an. Ihr hübsches Gesicht war vor Wut verzerrt, als sie mit dem freien Fuß auf seine Hand trampelte und sich loszureißen versuchte. Aber Wilde ließ nicht locker, zumal Wut und Trunkenheit die Schmerzen betäubten, die sie seiner Hand beifügte. Er packte nun auch mit der anderen Hand zu und holte sie von den Beinen. Es gelang ihr noch, ihn mit dem Messer zu verletzten, doch sie musste es dann preisgeben, denn er hielt ihr zartes Handgelenk umklammert und zwang sie auf den Rücken. Hämisch grinsend kniete er über ihr. Niemand vergriff sich ungestraft an Edmond Wilde. Sie wehrte sich nach Kräften, fluchte und bespuckte ihn. Er schlug ihr ins Gesicht, und als sie zu schreien anfing, hielt er ihr den Mund zu, worauf sie ihm in die Hand biss.
Die Plane im Zelteinstieg flog auf, und ein Mann stürmte herein, ein Schwert in der Hand. Wilde wälzte sich zur Seite und griff nach seiner Waffe. Das Flittchen hat offenbar einen Zuhälter, dachte er und sprang auf die Beine.
Und noch ehe sich der vermeintliche Zuhälter an die Dunkelheit im Zelt gewöhnen konnte, hatte Wilde sein Schwert gezogen. Er holte aus und stach zu. Die Rippen des Getroffenen konnten der wuchtig auftreffenden Klinge nicht widerstehen; stöhnend sackte er zu Boden. Das Mädchen hastete zum Ausstieg hin, doch Wilde fackelte nicht lange und streckte es nieder.
Als er die beiden Leichen in ihrem Blut verrenkt am Boden liegen sah, verflüchtigte sich auch der Rest an Weinseligkeit, und Wilde war wieder stocknüchtern. Er hob seinen Geldbeutel auf und dachte hektisch darüber nach, was er jetzt tun sollte. Das Mädchen und ihr verhinderter Beschützer waren bestimmt Ortsansässige. Die Dörfler würden ihn als Mörder hängen und seine Version der Geschichte gar nicht erst hören wollen. Er war ein fahrender Artist, ein Außenseiter. Schon waren Laufschritte derjenigen zu hören, die, von den Schreien des Mädchens alarmiert, herbeieilten, um nach dem Rechten zu schauen. Er zog seine Hose hoch und griff nach Bogen und Köcher. Auf dem Weg nach draußen trat er dem toten Mädchen in die Seite. Miststück. Alles nur deine Schuld. Als er den Kopf durch die Zeltöffnung streckte, sah er das halbe Dorf herbei rennen. Schnell zog er den Kopf wieder ein, sprang auf die andere Seite des Zeltes und schnitt sich dort einen Ausstieg in die Plane.
Der Waldrand war nicht allzu weit entfernt. Wenn er sich beeilte, würde er im Unterholz verschwinden können und so den Verfolgern entkommen. Es erhob sich ein Geschrei, als man ihn entdeckte. Er rannte los. Doch schon bald war ihm klar, dass er es nicht schaffen würde. Er war nicht gut in Form, und die Dörfler holten mächtig auf.
Taumelnd machte er Halt und wandte sich seinen Verfolgern zu. Es dauerte eine Weile, bis er den Bogen zur Hand genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt hatte. An der Spitze der Menge lief ein Soldat. Wilde zögerte. Ich kann doch nicht auf einen Kameraden schießen… Aber er wollte sich auch nicht geschlagen geben.
Und so schoss er den Pfeil ab und traf das Opfer in den Hals. So wuchtig war der Aufprall des Pfeils, dass der Soldat nach hinten umkippte. Die Menge trudelte aus. Um ganz sicher zu gehen, streckte Wilde zwei weitere Verfolger mit seinen Pfeilen nieder; dann drehte er sich um und hastete weiter. Fast hatte er den Waldrand erreicht, als er in ein Loch trat und zu Boden stürzte. Er hörte, wie das Bein brach.
Wieder aufzustehen war ihm unmöglich. Es fiel ihm schon schwer genug, nach Luft zu ringen. Benommen blickte er sich um und sah, dass der Bogen außer Reichweite lag. Und dann waren die Dörfler zur Stelle. Die ihn als Erste erreichten, traten dem Bogenschützen in die Rippen, der so sehr außer Atem war, dass er nicht einmal laut aufschreien konnte. Die Menge umringte und beschimpfte ihn als Vergewaltiger und Mörder, immer und immer wieder, bis die Stimmen in ein hässliches Stakkato übergingen, das Blut gier mitschwingen ließ. Füße traten auf ihn ein, Knüppel fuhren auf ihn nieder, und am Ende hatte er nicht einmal mehr die Kraft zu stöhnen. Da wickelte einer ein Seil auseinander.
Nein…
Lachend und krakeelend schleifte man Wilde vor den nächst besten Baum. Was konnte der Volksfeststimmung zuträglicher sein als eine zünftige Hinrichtung? Das Seil flog über einen hohen Ast. Als Wilde die Schlinge vor seinen Augen baumeln sah, mobilisierte er letzte Kräfte und langte verzweifelt aus - in Richtung der feixenden Gesichter ringsum. Doch es waren genügend Männer da, die ihn in Schach hielten. Man fesselte ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Jemand legte ihm die Schlinge um den Kopf. Das raue Seil schürfte seine Haut auf.
Nein. Das kann nicht wahr sein. Ich bin doch entkommen. Ich hin in den Wald geflohen und führe seitdem ein Lehen als gefürchteter Räuber.
Ein Dutzend Männer hielten das Seil gepackt und hievten ihn langsam in die Höhe, bis seine Füße über dem Gras baumelten. Er zappelte und würgte, und die Menge johlte, sooft er mit den Beinen austrat. Ihm war klar, dass er sterben musste, wogegen er sich plötzlich gar nicht mehr sträubte. Das Leben, das er geführt hatte, war kein großer Verlust. Ein Mal ein Held gewesen zu sein hatte ihm nicht viel genützt. Im Gegenteil: Nach einer kurzen Phase flüchtigen Ruhms war er in ein tiefes Loch aus Langeweile und Leere gestürzt. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Und er hatte ihn ja auch verdient. Seine Glieder wurden schlaff und es umfing ihn Dunkelheit, die er willkommen hieß.
Vogelscheuchen-Jack lag ausgestreckt auf weichem Moos am Rand einer Lichtung. In den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Bäume fielen, schwirrten Schwärme von Insekten. Erde, Bäume, Blätter und Blüten verströmten würzige Düfte. Wie verzaubert beobachtete Jack einen Schmetterling, der wie ein Stück beseelter Launenhaftigkeit durch die Luft trudelte. Aus allen Ecken schallte Vogelgesang von kurzen Schnäpperlauten bis hin zur großartigen Koloratur. Jack reckte sich behaglich. Das Moos war fest und trocken und die Luft an diesem Spätsommertag wohlig warm.
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