Es wurde schnell dunkel. Bald müssten sie Rast machen. Zu groß war die Gefahr, in der Finsternis in eine Gletscherspalte zu stürzen. Verdammtes Wetter! Mandred wischte sich fahrig über die Stirn. Seine Augenbrauen waren von Schnee verkrustet. Er musste den anderen klar machen, dass es keinen Sinn mehr machte, noch länger zu suchen. Selbst wenn sie nicht abstürzten, mochten sie in dem Schneetreiben dicht an der Höhle vorbeilaufen, ohne sie zu bemerken.
Plötzlich verharrte der Krieger. Da war ein fauliger Geruch! Er erinnerte Mandred an die Ausdünstungen der Bestie. Er blinzelte ins Schneetreiben hinein. Nichts! Hatte er es sich nur eingebildet?
Einer der Wölfe stieß ein lang gezogenes Heulen aus.
Die Bestie war hier! Ganz nahe! Mandred ließ die Zügel fahren und umklammerte den Schaft der Saufeder mit beiden Händen. Ein Stück voraus im Schnee erhob sich ein Schatten. »Für Aigilaos!«, schrie der Krieger.
Erst im letzten Augenblick erkannte er, was dort aufragte. Es war ein weiterer Eisenmann! Diesmal aber blickte er nicht weiter den Gletscher hinauf, sondern geradewegs zur Felswand. Ein schmaler Steig führte dort hinauf. Viel zu schmal, als dass Pferde ihn erklimmen konnten.
»Das ist es.« Vanna war an Mandreds Seite getreten und deutete den Felssteig hinauf. »Viele Albenpfade kreuzen sich irgendwo dort oben und bilden einen Albenstern.«
»Was ist ein Albenstern?«, fragte Mandred.
»Ein Ort der Macht, ein Platz, an dem sich zwei oder mehr Albenpfade kreuzen.«
Mandred war sich nicht sicher, was sie damit meinte. Vermutlich Wege, die früher häufig von Alben beschriften wurden. Aber was hatten sie in Luths Höhle gesucht? Waren sie gekommen, um dem Gott zu huldigen?
»Ich spüre die Pfade schon seit Stunden«, fuhr Vanna fort. »Wenn sich sieben Wege an dieser Stelle kreuzen, dann wird es dort ein Tor geben.«
Der Krieger sah die Elfe verwundert an. »Ein Tor? Dort gibt es kein Haus und keinen Turm. Es ist eine Höhle.«
Vanna lächelte. »Wenn du es sagst.«
Farodin machte sich an der Decke zu schaffen, die er hinter seinen Sattel geschnallt hatte. Er zog ein zweites Schwert hervor und schlang den Gurt um seine Hüften. Brandans Waffe! Dann rollte er die Decke auf und warf sie seinem Hengst über.
»Die Pferde werden sich eine windgeschützte Stelle suchen und auf uns warten, so lange sie die Kälte ertragen«, erklärte Vanna. Sie kraulte den kleineren der beiden Wölfe zwischen den Ohren und redete beruhigend auf ihn ein. »Du bleibst hier und schützt die Pferde vor den Trollen.« Sie zwinkerte Mandred zu.
Die Gefährten taten es Farodin nach und schützten auch die übrigen Tiere mit Decken.
Denen ist wahrscheinlich längst nicht so kalt wie mir, dachte Mandred ärgerlich. Er tätschelte seiner Stute über die Nüstern. Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen auf eine Art an, die ihm nicht gefiel. Wusste sie etwa um sein Schicksal? Pferde sollten nicht so traurig dreinblicken können!
»Wir werden dem Mistvieh den Bauch aufschlitzen und dann sehen, dass wir so schnell wie möglich verschwinden. Hier ist es viel zu kalt, um lange zu verweilen«, sagte Mandred, um sich selbst Mut zu machen.
Die Stute drückte ihm die weichen Nüstern in die Hand und schnaubte leise.
»Bist du bereit?«, fragte Vanna sanft.
Statt zu antworten, ging Mandred auf die Felswand zu. Verwitterte Stufen waren in den grauen Stein geschlagen. Vorsichtig tastete der Krieger sich voran. Eis knirschte unter seinen Tritten. Die linke Hand legte er auf den Fels, um zusätzlichen Halt zu haben. Immer enger wurden die Stufen, sodass zuletzt kaum ein Fuß auf ihnen Platz fand.
Mandreds Atem ging keuchend, als er endlich das Ende des Felssteigs erreichte. Eine Klamm öffnete sich vor ihm. Ihre Wände lagen so dicht beieinander, dass dort keine zwei Männer nebeneinander gehen konnten.
Mandred fluchte stumm. Der Manneber hatte diesen Ort mit Bedacht gewählt. Hier konnte immer nur einer von ihnen gegen ihn antreten. Weit oben in der Klamm flackerte rötliches Licht, das die Schneewechten auf dem Fels wie gefrorenes Blut erscheinen ließ. Mandred schlug das Zeichen des schützenden Auges. Dann ging er langsam voran. Die dünne Luft war rauchgeschwängert. Irgendwo dort oben brannte harziges Fichtenholz! Der Geruch würde den Gestank des Mannebers überdecken. »Verdammtes Mistvieh!«, entwich es ihm.
Jedes Mal hatte der Manneber sie überrascht. Es schien fast, als könnte er sich unsichtbar machen. Allein sein Geruch verriet seine Anwesenheit. Vorsichtig pirschte Mandred vor. Hoch über ihm hing ein riesiger Felsklotz verkeilt zwischen den Wänden. Wie ein Türsturz rahmte er den Weg. Hatte Vanna diesen Ort gemeint, als sie von einem Tor gesprochen hatte?
Geröll polterte von einer der Felswände. Erschrocken riss Mandred die Saufeder hoch. Etwas kletterte über ihm in der Klamm, aber in der Dunkelheit konnte er es nicht genau erkennen.
Der Menschenkrieger beschleunigte seine Schritte. Langsam weitete sich die enge Schlucht zu einem kleinen Talkessel. Kaum hundert Schritt entfernt klaffte ein finsteres Maul im Felsen. Luths Höhle! Der Boden des Tals war mit großen Felsbrocken übersät. Nahe bei der Höhle brannte ein Feuer.
»Komm heraus und stell dich!« Mandred hob die Saufeder herausfordernd über den Kopf. »Hier sind wir!« Seine Stimme hallte von den Felsen wider.
»Er wird erst kommen, wenn er uns genau dort hat, wo er uns haben will!«, sagte Farodin grimmig. Der Elf öffnete die Brosche seines Umhangs und ließ ihn zu Boden gleiten.
Kurz überlegte Mandred, ob auch er seinen schweren Pelzumhang ablegen sollte. Er mochte ihn vielleicht im Kampf behindern. Aber es war einfach zu kalt. Im Zweifelsfall konnte er ihn immer noch mit einem Handgriff abstreifen.
Farodin ging nun voran. Mit katzenhafter Anmut bewegte er sich zwischen den Felsen.
»Wir bleiben zusammen«, befahl Mandred. »So können wir uns besser verteidigen.« Vanna war deutlich die Angst anzusehen. Ihre Augen waren geweitet, und der Speer in ihren Händen zitterte leicht.
Nuramon hatte als Letzter den Talkessel betreten. Der verbliebene Wolf hielt sich dicht an seiner Seite. Er hatte die Ohren angelegt und wirkte ängstlich.
»Gibt es nicht doch noch etwas, das du uns über die Devanthar erzählen kannst, Zauberin?«, fragte Mandred.
»Niemand weiß viel über sie«, erwiderte Vanna knapp. »Sie werden jedes Mal anders beschrieben in den alten Geschichten. Mal werden sie mit Drachen verglichen, dann wieder mit Schattengeistern oder riesigen Schlangen. Es heißt, sie könnten ihre Gestalt wandeln. Von einem Manneber habe ich allerdings noch nie gehört.«
»Das hilft uns nicht weiter«, murmelte Mandred enttäuscht und stieg dann in das kleine Tal hinab.
Farodin erwartete sie am Feuer. Dort lag ein großer Stapel Brennholz, zersplitterte Stämme und grüne Fichtenzweige.
Der Elf schob einen der Zweige zur Seite. Darunter lag ein Stamm aus dunklerem Holz. Mandred erkannte erst auf den zweiten Blick, was es war.
»Der Devanthar scheint keinen großen Respekt vor deinen Göttern zu haben.«
Mandred zog das schwere Götzenbild unter den Zweigen hervor. Es war einer der Eisenmänner, diesmal ein Bildnis von Luth. Viele der Opfergaben waren aus dem Holz gebrochen und hatten tiefe Kerben hinterlassen. Mandred tastete ungläubig über das geschändete Standbild. »Er wird sterben«, murmelte er. »Sterben! Niemand verspottet ungestraft die Götter. Hast du ihn gesehen?«, fuhr er Farodin an.
Der Elf deutete mit Brandans Schwert auf die Höhle. »Ich vermute, dass er uns dort drinnen erwartet.«
Mandred breitete die Arme aus und blickte in den Nachthimmel. »Herren des Himmels und der Erde! Gebt uns die Kraft, euer rächender Arm zu sein! Norgrimm, Lenker der Schlachten! Hilf mir, unseren Feind zu vernichten!« Er wandte sich der Höhle zu. »Und du, Manneber, fürchte meinen Zorn! Ich werde deine Leber den Raben und Hunden vorwerfen!«
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