Als der Schmerz aus Brandans Körper in seine Hände kroch, schloss Nuramon die Augen und dachte an Aigilaos. Farodin hatte Recht gehabt: Der Kentaur war nicht mehr zu retten gewesen. Und doch fragte sich Nuramon, ob der Gedanke an Noroelle und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, an seinem Tod Schuld trugen. Vielleicht hätte er Aigilaos mit ein wenig mehr Mühe doch noch retten können.
Mit einem Mal verebbte der Schmerz, und Nuramon schlug die Augen auf. Farodin, Mandred und Vanna waren bei ihm und machten sorgenvolle Gesichter. Er ließ von Brandan ab. »Keine Angst. Es ist alles in Ordnung.«
Als Brandan kurz darauf erwachte, waren alle erleichtert. Er fühlte sich müde, aber er konnte berichten, was geschehen war. »Der Eber war plötzlich da. Da war dieser Gestank, und ich war wie gelähmt. Ich konnte nichts unternehmen. Nichts!« Er war vom Manneber bewusstlos geschlagen worden, um dann als Köder zu dienen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein entsetzliches Röcheln gewesen.
Nuramon berichtete Brandan und Vanna, was mit Aigilaos geschehen war. Er beschrieb das Schicksal des Kentauren bis in die letzte Einzelheit, nur dass Aigilaos ihn um den Tod gebeten hatte, verschwieg er. Auf den Gesichtern der anderen stand nacktes Entsetzen.
Farodin schüttelte den Kopf. »Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Manneber. Er ist mehr als nur eine ungeschlachte Bestie.«
Mandred entgegnete: »Was er auch ist, wir können ihn erledigen, wenn wir uns nicht mehr trennen lassen. Wir werden jetzt Wachen einteilen, damit uns dieses Mistvieh nicht überrascht.«
Noch bevor sie die erste Wache einteilten, kehrten zwei Wölfe still und mit angewinkeltem Schwanz ins Lager zurück. Sie waren unverletzt. Mandred war froh, die Tiere zu sehen, und streichelte einem von ihnen den Kopf. Vanna nahm sich des anderen an. Die Wölfe waren erschöpft, und sie stanken nach dem Manneber.
»Was ist das da?«, fragte Farodin und deutete auf die Schnauze des Wolfs, der bei Mandred war.
Für Nuramon sah es aus wie Blut.
Der Menschensohn schaute nach. »Es ist gefrorenes Blut. Seht, wie hell es ist!«
Nuramon gewahrte einen silbernen Glanz darin, konnte aber nicht sagen, ob der Glanz vielleicht vom Frost kam.
Alle betrachteten das Blut genau. Mandred sagte darauf: »Der Eber ist verletzbar. Morgen werden wir ihn aufspüren und es ihm heimzahlen!«
Farodin nickte entschlossen. Nuramon und Brandan stimmten gleichfalls zu.
Nur Vanna antwortete nicht darauf. Sie betrachtete die Schnauze ihres Wolfes, die auch blutig zu sein schien.
»Was ist mit dir?«, fragte Farodin.
Die Zauberin erhob sich, ließ den Wolf zurück und setzte sich zwischen Nuramon und Farodin. Sie machte ein besorgtes Gesicht und holte tief Luft. »Hört mir gut zu! Wir befinden uns nicht auf einer gewöhnlichen Elfenjagd. Und ich sage das nicht nur, weil wir so kläglich versagt haben und zwei unserer Gefährten tot sind.«
»Was soll das heißen?«, fragte Mandred. »Weißt du etwas, das wir nicht wissen?«
»Am Anfang war es nur eine Ahnung. Sie erschien mir so abwegig, dass ich schwieg und sie rasch verdrängte. Ich spürte eine Gegenwart, die anders war als alles, was mir vertraut ist. Als wir auf der Fährte des Mannebers waren, nahm ich seinen Geruch wahr. Und wieder war da diese Ahnung, doch der Gestank war mir nicht Beweis genug. Als ich schließlich dem Manneber gegenüberstand und sah, wie die Wölfe gegen ihn kämpften, als ich in seine blauen Augen schaute und er seine Magie einsetzte, um Lijema diese Wunde zuzufügen, da wusste ich, womit wir es zu tun haben. Doch ich wollte es noch immer nicht wahrhaben. Aber jetzt, da ich dieses Blut sehe, kann es keinen Zweifel mehr geben…« Sie verstummte.
»Woran?«, drängte Mandred.
»Dir, Mandred, sagt es vielleicht nicht viel, aber die Kreatur, die du Manneber nennst, ist nichts anderes als ein Devanthar, ein Dämon aus alten Tagen.«
Nuramon war fassungslos. Das konnte nicht sein! In Farodins und Brandans Gesichtern sah er das gleiche Entsetzen, das auch er fühlte. Zwar wusste Nuramon nur sehr wenig über die Devanthar, doch sie galten als Schattenwesen, die sich dem Chaos und der Zerstörung verschrieben hatten. Die Alben hatten die Devanthar einst bekämpft und sie allesamt vernichtet. So hieß es in den Erzählungen, und in diesen waren den Dämonen nur wenige Worte gewidmet. Man sagte, sie könnten die Gestalt wechseln und seien mächtige Zauberer. Wahrscheinlich wusste allein die Königin, was es mit den Devanthar wirklich auf sich hatte. Nuramon konnte sich nicht vorstellen, dass Emerelle sie wissentlich gegen ein solches Schattenwesen ausgesandt hätte. Was Vanna sagte, durfte nicht wahr sein!
Farodin blickte mit starrer Miene zu der Zauberin. Er sprach aus, was Nuramon dachte: »Das ist unmöglich! Das weißt du.«
»Ja, genau das habe ich auch gedacht. Selbst als ich dieses Wesen klar vor mir sah, wollte ich es nicht glauben und redete mir ein, dass ich mich irrte. Doch dieses Blut mit seinem seltsamen Silberglanz hat mir die Augen geöffnet. Dieses Wesen ist ein Devanthar.«
»Nun, du bist die Zauberin, du kennst das Wissen der Alten«, sagte Farodin, doch er klang keineswegs überzeugt.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Brandan leise.
Vanna wich den Blicken der anderen aus. »Wir sind die Elfenjagd, wir müssen es zu Ende bringen. Also werden wir gegen ein Wesen kämpfen, das für einen Alben ein würdiger Gegner war.«
Aus Mandreds Zügen sprach Entsetzen. Jetzt erst schien er zu begreifen, wovon Vanna sprach. Offenbar kannte man die Alben und deren Macht auch bei den Menschen. Es mochte sein, dass sie für Mandred so etwas wie Götter waren.
»Noch nie hat ein Elf einen Devanthar getötet«, warf Farodin ein.
Nuramon tauschte einen Blick mit Farodin und musste einmal mehr an sein Versprechen gegenüber Noroelle denken. »Dann werden wir eben die Ersten sein!«, sagte er entschlossen.
Der Flüsterer im Schatten
Farodin hatte sich in den Schatten des Waldrands zurückgezogen. Nicht mehr lange, und die letzte Wache wäre vorüber. Sie hatten beschlossen, noch vor dem Morgengrauen das Lager abzubrechen und nach der Fährte des Devanthars zu suchen. Sie würden zusammenbleiben. Es durfte nicht noch einmal geschehen, dass diese Kreatur mit ihnen spielte, sie als Köder benutzte.
Das Feuer war zu einem Haufen dunkler Glut herabgebrannt. Der Elf vermied es, direkt in das Licht zu blicken, um sich seine Nachtsicht nicht zu verderben. Leises Schnarchen erklang. Mandred war tatsächlich eingeschlafen. Seit er gestern von der hohen Klippe aus gesehen hatte, dass sein Dorf nicht verwüstet war, hatte sich der Menschensohn verändert. Trotz aller Schrecken blieb er ruhig. Offenbar war er noch immer davon überzeugt, dass die Elfenjagd das Ungeheuer töten würde. Selbst nachdem ihnen Vanna offenbart hatte, gegen wen sie ausgezogen waren. Das naive Vertrauen des Menschen in die Elfenjagd hatte etwas Rührendes.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Farodin eine Bewegung. Keine zwanzig Schritt entfernt war ein Schatten unter den Bäumen. Farodin nahm den Bogen von seinem Schoß, ließ die Waffe aber sogleich wieder sinken. Die Stämme und das dichte Unterholz machten es unmöglich, einen gezielten Schuss abzugeben. Die Kreatur wollte ihn reizen, aber er würde sich nicht darauf einlassen.
Der Elf nahm ein paar Pfeile aus dem Köcher und stieß sie vor sich in den Schnee. So könnte er bei Bedarf schneller schießen. Sollte der Devanthar versuchen, vom Waldrand aus das Lager anzugreifen, hätte er mindestens drei Schuss auf ihn. Unverwundbar war dieser Dämon gewiss nicht! Es war an der Zeit, dass er für das bezahlte, was er angerichtet hatte.
Farodin blinzelte. War die Kreatur wirklich dort drüben? Oder hatte ihm die Dunkelheit einen Streich gespielt? Wenn man zu lange in einen finsteren Wald starrte, dann konnte man dort alles sehen.
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