Nuramon vermochte sich den Schmerz nicht vorzustellen, den Aigilaos verspüren musste. Er hatte noch nie ein Lebewesen gesehen, das so zugerichtet war wie der Kentaur.
»Farodin! Mandred!«, rief er, unschlüssig, ob er Hilfe holen oder aber den Versuch wagen sollte, etwas für Aigilaos zu tun. Er blickte auf seine Hände hinab und sah, wie sie zitterten. Er musste einfach etwas tun! Seine Gefährten im Lager hatten ihn gewiss gehört.
»Ich werde dir helfen, Aigilaos!«
Der Kentaur hörte mit seinem stimmlosen Schreien auf und blickte Nuramon mit bebender Miene an.
Es war aussichtslos. Die Bauchwunde allein würde den Kentauren umbringen. Die Halswunden hatten ebenfalls viel Schaden angerichtet. Sollte er den Kentauren anlügen? »Ich werde erst einmal deine Schmerzen lindern.« Nuramon legte die Hände auf Aigilaos’ Stirn und blickte ihm in die tränenden Augen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war. »Nur noch einen Augenblick!«, sagte Nuramon und konzentrierte sich auf den Zauber.
Er begann mit einem Kribbeln in den Fingerspitzen. Nuramon achtete auf seinen Puls und spürte, wie kühle Schauer durch seine Arme zu den Händen hinabliefen. Unter seinen Fingern fühlte er, wie sich Aigilaos’ Stirn wärmte. Er konnte den rasenden Puls des Kentauren spüren und merkte, wie sein eigener Herzschlag sich zunächst an den des Gefährten anpasste. Dann verlangsamten sich beide Herzschläge, und Aigilaos wurde ruhiger. So viel war geschafft, auch wenn der Kentaur nicht mehr zu retten war.
Als Nuramon die Hände von Aigilaos’ Stirn löste, konnte er mit ansehen, wie sich dessen Gesichtszüge langsam entspannten. Bei all dem Blut, das Nuramon sah, wunderte er sich abermals, dass der Kentaur noch bei Bewusstsein war. Er beschloss, den Versuch zu wagen, gegen den Tod seines Gefährten anzukämpfen, auch wenn es aussichtslos erschien. Er hatte keine Erfahrung mit Kentauren. Es mochte sein, dass sie solche Wunden überleben konnten. So legte er dem Verletzten vorsichtig die Hand auf den offenen Hals.
Aigilaos konnte keine Schmerzen mehr spüren und starrte ihm ernst in die Augen. Dann schüttelte er den Kopf und blickte auf das Schwert des Elfen.
Nuramon war entsetzt. Aigilaos wusste, dass es zu Ende war. Und nun sollte er Gaomees Schwert ziehen, um dem Kentauren damit einen schnellen Tod zu bereiten. Das Schwert, mit dem Gaomee einst in heldenhaftem Kampf Duanoc erschlagen hatte, sollte nun mit dem Blut eines Gefährten befleckt werden.
Nuramon zögerte, aber im Blick des Kentauren lag ein Flehen, dem er sich nicht entziehen konnte. Es nahm ihn geradezu in den Bann. Er musste es tun. Aus Mitgefühl! So zog er das Schwert.
Aigilaos nickte.
»Wir sehen uns im nächsten Leben wieder, Aigilaos!« Er hob die Waffe und ließ sie niederfahren. Doch kurz vor der Brust des Kentauren verharrte die Schwertspitze. Ungläubig schaute Aigilaos auf. »Ich kann es nicht«, sagte Nuramon verzweifelt und schüttelte den Kopf. Die Worte, die er dem Kentauren zum Abschied gesagt hatte, läuteten in seinem Geist wie eine gewaltige Glocke. _Wir sehen uns im nächsten Leben wieder!_ Wer konnte das schon sagen? Nuramon war sich nicht sicher, ob Aigilaos’ Seele ihren Weg aus dieser Welt zurück nach Albenmark finden würde. Wer ihm hier das Leben nahm, der mochte ihn für immer der Aussicht auf eine Wiedergeburt berauben.
Nuramon warf das Schwert beiseite. Er hätte die Waffe beinahe mit dem Blut seines Gefährten befleckt. Ihm blieb nur eines zu tun: seine Zauberkraft einzusetzen und zu versuchen, seinen Gefährten zu retten.
Nuramon prüfte noch einmal die Wunden am Hals. Mandred hatte den Eber als grobe Bestie beschrieben. Diese Wunden aber waren so zielsicher in die Haut geritzt, dass sie von einem Messer zu stammen schienen. Konnte der Manneber Waffen führen? Oder hatte eine andere Bestie Aigilaos derart zugerichtet? Was Nuramon verwunderte, war, dass außer dem Blut seines Gefährten keinerlei Spuren zu finden waren, nicht einmal die Fährte des Rehs, das Aigilaos gejagt hatte, setzte sich fort. Auch von Brandan war nichts zu sehen. Vielleicht lag er ebenfalls irgendwo dort draußen im Wald und war ähnlich zugerichtet.
Nuramon unterdrückte den Wunsch, nach den übrigen Gefährten zu rufen. Damit würde er nur die Bestie anlocken. Behutsam legte er die Hände auf die schmalen Wunden. Und kaum hatte er an den Zauber gedacht, kribbelte es erneut in den Fingern. Diesmal jedoch blieb der Schauer aus, den er eben noch in den Armen verspürt hatte. Stattdessen wurde aus dem Kribbeln ein Schmerz, der sich von den Fingerspitzen aus über die Hände bis zu den Gelenken ausbreitete. Schmerz gegen Heilung! Das war der Tausch, der seinem Zauber innewohnte. Als der Schmerz schließlich verblasste, löste Nuramon die Hände von Aigilaos und betrachtete dessen Hals. Die Wunden hatten sich geschlossen.
Doch als er sich den klaffenden Schnitt im Bauch ansah, wusste er, dass seine Kräfte dort nichts ausrichten konnten. Hier war ein Zauber gefragt, der den Körper als Ganzes belebte. Nuramon beugte sich zu Aigilaos’ Oberkörper. »Kannst du wieder sprechen?«, fragte er den Kentauren.
»Tu es nicht, Nuramon!«, bat Aigilaos heiser. »Nimm das Schwert und mach dem hier ein Ende!«
Nuramon legte Aigilaos die Hände auf die Schläfen. »Es sind nur Schmerzen.« Er wusste nur zu gut, dass größere Wunden größere Schmerzen für ihn bedeuteten. Dennoch konzentrierte er sich und versuchte ruhig zu atmen.
»Ich wünsche dir das Glück der Alben, mein Freund«, sagte der Kentaur.
Nuramon entgegnete nichts darauf, sondern ließ seine Zauberkraft über die Hände in Aigilaos’ Körper fließen. Er dachte an all jene, die er geheilt hatte. Es waren viele Bäume und Tiere gewesen, selten einmal ein Elf…
Mit einem Mal durchfuhr ein stechender Schmerz seine Hände und zog sich die Arme hinauf. Das war der Preis für die Heilung, das galt es auszuhalten! Dann wuchsen die Schmerzen ins Ungeheuerliche. Nuramon schloss die Augen und kämpfte dagegen an. Doch all seine Versuche, die Schmerzen zu zerstreuen, scheiterten. So traf es ihn wie ein Blitz in den Kopf. Er wusste, er hätte nur loslassen müssen, und der Schmerz wäre vorüber. Aber Aigilaos wäre dann verloren.
Da waren nicht nur die zahlreichen Wunden, nicht nur der große Schaden, der durch die Bauchwunde entstanden war; es gab auch etwas anderes, etwas, das Nuramon nicht zu fassen bekam. War es ein Gift? Oder gar ein Zauber? Nuramon versuchte sich zu entspannen, doch der Schmerz war zu groß. Er spürte, wie seine Hände verkrampften und er am ganzen Oberkörper zu zittern begann.
»Nuramon! Nuramon!«, hörte er eine raue Stimme schreien. »Bei allen Göttern!«
»Still! Er heilt ihn!«, rief die Stimme eines Elfen. »O Nuramon!«
Der Schmerz wuchs, und Nuramon biss die Zähne zusammen. Es schien kein Ende der Qualen zu geben. Sie wuchsen und wuchsen. Er spürte, wie ihm die Sinne schwanden.
Für einen Moment musste Nuramon an Noroelle denken. Und mit einem Mal war der Schmerz fort.
Es war still.
Nuramon öffnete langsam die Augen und sah Farodins Gesicht über sich. »Sag etwas, Nuramon!«
»Aigilaos?«, war alles, was ihm über die Lippen kam.
Farodin blickte zur Seite, dann wieder zu ihm und schüttelte den Kopf.
Neben sich hörte er Mandred rufen: »Nein. Wach auf! Wach wieder auf! Geh nicht so! Sag mir noch etwas!«
Aber der Kentaur schwieg.
Nuramon versuchte sich aufzurichten. Langsam kehrten seine Kräfte zurück. Farodin half ihm auf. »Du hättest sterben können«, flüsterte er.
Nuramon starrte auf Aigilaos hinab; Mandred hatte sich über ihn gebeugt und weinte. Die Züge des toten Kentauren wirkten zwar entspannt, aber sein Leichnam bot immer noch einen erschreckenden Anblick.
»Hast du vergessen, was du Noroelle versprochen hast?«
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