Als hätte er ihre Gedanken gehört, musterte Mandred sie kurz und lächelte dann. Obilee fasste ihre Hand. Sie zitterte. Noroelle blieb ruhig und schaute dem Menschensohn in die blauen Augen. Das war nicht der lüsterne Blick, von dem man sich hier am Hof erzählte. So grob seine Gestalt auch wirkte, so viel Gefühl lag in seinen Augen. In seiner Gegenwart konnte man sich sicher fühlen, und ihm konnte sie beruhigt ihre beiden Liebsten anvertrauen. Sie blickte zu Nuramon und Farodin. Seit sie vor zwanzig Jahren ihre Liebe zu ihr erkannt hatten, war stets einer der beiden in ihrer Nähe gewesen. Nun würde sie für unbestimmte Zeit allein sein.
»Ihr wisst, was zu tun ist«, sagte die Königin. »Ihr seid ausgestattet und ausgeruht. Seid ihr bereit zu gehen?«
Jeder der Elfenjäger antwortete einzeln mit den Worten: »Ich bin bereit.«
»Farodin und Nuramon, tretet vor!« Die beiden taten, was Emerelle verlangte. »Ich bin eure Königin, und ihr steht unter meinem Schutz. Aber ihr dient auch einer Minneherrin. Und ich kann nicht für sie sprechen. Sie hat entschieden.« Sie ging zu Noroelle und führte sie die Stufen hinab zu Farodin und Nuramon. Obilee folgte. »Hier ist sie.«
Noroelle nahm die beiden Männer bei der Hand und sagte: »Dient ihr mir, dann dient ihr der Königin.«
»So werden wir stets der Königin dienen«, erklärte Farodin darauf.
»Mögen unsere Taten euch beide erfreuen«, setzte Nuramon nach.
Sie küssten ihre Hände.
Noroelle wusste, dass nun der Abschied bevorstand. Doch es war zu früh, sie wollte ihren Liebsten nicht hier vor den Augen aller Lebewohl sagen. »Eure Minneherrin hat noch einen Wunsch. Sie möchte euch bis zum Tor des Aikhjarto begleiten.«
Farodin tauschte einen Blick mit Nuramon. »Wir müssen tun, was die Minneherrin verlangt.«
Die Königin lächelte und nahm Noroelle wie auch Obilee bei der Hand. »Hier, Mandred, bringe ich dir zwei, die bis zum Tor unter deinem Schutz stehen. Behandle sie gut.«
»Das werd ich.«
Die Königin blickte nach oben, als könnte sie im Schein der gedämpften Sonne etwas sehen, das den Augen der anderen verborgen war. »Der Tag ist noch jung, Mandred! Geh und rette dein Dorf!«
So setzte sich Mandred an die Spitze der Elfenjagd, und Noroelle und Obilee gingen in der Mitte. Auf dem Weg wünschten die Albenkinder den Gefährten Glück. Noroelle warf einen Blick zur Königin zurück und sah, wie diese vor ihrem Thron stand und mit sorgenvoller Miene hinter der Gemeinschaft her schaute. Hatte sie etwa Sorge, dass ihnen etwas zustieße? Wenn es sich so verhielt, dann hatte Emerelle ihre Befürchtungen bisher gut verborgen.
Obilee riss Noroelle aus ihren Gedanken. »Ich wünschte, ich wäre auch bei der Elfenjagd«, sagte sie.
»Im Augenblick sieht es so aus, als wärst du es.«
»Du weißt, was ich meine«, entgegnete Obilee.
»Natürlich. Aber hast du nicht gehört, was die Königin zu dir gesagt hat? Und habe ich dich nicht auch oft darauf aufmerksam gemacht, dass du so aussiehst wie Danee? Eines Tages wirst auch du zu solchen Ehren kommen, als große Zauberin, die zugleich eine Meisterin des Schwertes ist.«
Die Gemeinschaft schritt entschlossen durch die Hallen ins Freie. Der Burghof war voller Albenkinder. Selbst die Kobolde und die Gnome waren gekommen, um den Auszug der Elfenjagd zu sehen. Eine Jagd, die von einem Menschen angeführt wurde, war etwas Besonderes. Von diesem Tag würde man sich noch in vielen Jahren erzählen.
Die Pferde für die Gefährten standen bereit, die Ausrüstung war schon verstaut. Nur der Kentaur Aigilaos band sich noch einige Beutel auf den Rücken und fluchte leise über seinen verspannten Nacken. Er hatte es in der letzten Nacht offenbar nicht besonders bequem gehabt.
Während Meister Alvias zwei weitere Pferde holte, betrachtete Noroelle Farodin und Nuramon. Sie erschienen mit einem Mal so unsicher. Schon bald würden beide von ihr getrennt sein. Welche Worte würden sie in dieser Lage finden? Was mochte die Geliebte trösten?
»Ist die Elfenjagd bereit?«, fragte Mandred, wie es das Hofzeremoniell forderte. Die Gefährten nickten, und der Menschensohn rief: »Dann los!«
Die Elfenjagd machte sich auf den Weg. An der Spitze ritt der Menschensohn, dahinter Noroelle. Zu ihrer Linken war Nuramon, zu ihrer Rechten Farodin. Hinter ihr ritt Obilee, die von Brandan, Vanna und Aigilaos umgeben war. Lijema bildete den Schluss. Laute Abschiedsrufe begleiteten sie zum Tor; die Kobolde waren dabei nicht zu überbieten.
Kaum hatte die Gemeinschaft das Tor hinter sich gelassen, glaubte Noroelle ihren Augen nicht zu trauen. Auf der weiten Wiese hatten sich so viele Albenkinder wie wohl nie zuvor eingefunden. Sie alle wollten den Ausritt der Elfenjagd beobachten. Über der Wiese glitzerten die Flügel der Auenfeen im Sonnenlicht; die Feen waren neugierig, das war bekannt. Nahe dem Weg, den sie nahmen, standen Elfen aus dem Herzland und auch den fernsten Marken des Königreichs. Manche hatten es gestern wohl nicht mehr zum Hof geschafft, wollten sich nun aber den Auszug der Elfenjagd nicht entgehen lassen. Von hier und dort kamen den Gefährten Grüße entgegen. Selbst auf den Hügeln am Wald standen Elfen vor den Häusern der Abgesandten und winkten ihnen zu.
Mit einem Mal sah Noroelle eine kleine Fee neben Mandreds Kopf fliegen. Der Mensch schlug nach ihr wie nach einem lästigen Insekt, verfehlte sie aber. Die Fee schrie und kam zu Noroelle geflogen. Mandred schaute sich um. Er hatte den Schrei gehört, konnte die Fee aber offenbar nicht sehen.
Allmählich erhöhte er das Tempo. Er schien Gefallen daran gefunden zu haben, ein Elfenross zu reiten. Hoffentlich stürzte er nicht. Es hieß, er hätte sich auf dem Rücken von Aigilaos nicht besonders geschickt angestellt.
Als sie die Albenkinder mit ihren Grußworten hinter sich gelassen hatten und die offenen Wiesen vor ihnen lagen, ritt Lijema rechts an ihnen vorbei und war kurz darauf neben Mandred angelangt. Dieser schaute sie überrascht an. Lijema aber nahm ihre Holzflöte vom Gürtel und blies hinein. Obwohl sich deutlich sichtbar ihre Backen blähten, war kein Laut zu vernehmen.
Kurz darauf rief Obilee: »Schaut nur, dort!« Sie deutete nach rechts. Etwas Weißes löste sich aus dem Schatten des Waldes und näherte sich rasch.
»Da sind sie!«, rief Aigilaos.
»Es sind sieben!«, erklärte Nuramon.
»Sieben?«, fragte Farodin. »Unglaublich!«
Mandred drehte sich im Sattel. »Sieben was?«
Noroelle kannte die Antwort, so wie jedes Albenkind. Es waren die weißen Wölfe der Elfenjagd. Niemand konnte sagen, wie viele der Jagd folgen würden, bis sie sich hinzugesellten. Je mehr es waren, desto wichtiger war die Angelegenheit und umso größer die Gefahr. Zumindest erzählte man es sich so.
»Das sind unsere Wölfe!«, rief Lijema Mandred entgegen.
»Wölfe? Verdammt große Wölfe sind das!«
Noroelle musste schmunzeln. Die Wölfe mit ihrem weißen, dichten Fell waren so groß wie Ponys.
»Sind die gefährlich?«, hörte sie Mandred fragen. Aber Lijema verstand ihn wegen des lärmenden Hufschlags nicht. »Sind die gefährlich?«, wiederholte er lauter.
Lijema lächelte. »Aber natürlich.«
Als die Wölfe sie eingeholt hatten, setzten sich vier an die Spitze der Jagd. Je einer hielt sich links und rechts der Gemeinschaft. Der siebte Wolf aber lief direkt an Lijemas Seite.
Bald erreichten sie den Waldrand und hielten an, um einen letzten Blick zurück auf die Burg der Königin zu werfen. Selbst Mandred schien berührt zu sein.
Farodin und Nuramon konnten sich dem Anblick ebenfalls nicht entziehen. Besonders Nuramons Gesicht verriet die insgeheime Sorge, während Farodin versuchte, seine Gefühle verborgen zu halten. Noroelle aber blickte hinter seine Maske der Gelassenheit.
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