Emerelle erhob sich und trat an Noroelle heran. Sie sagte: »So sind Königin und Minneherrin vereint.« Dann fasste sie Noroelle und Obilee bei den Händen und führte sie die Stufen hinauf neben ihren Thron, um sich wieder zu setzen.
Noroelle hatte oft hier gestanden, doch wie jedes Mal fühlte sie sich fehl am Platze. In den Augen vieler stand Bewunderung, in manchen aber auch leiser Spott. Weder das eine noch das andere behagte ihr.
Die Königin bedeutete Noroelle mit einer knappen Geste, sich zu ihr hinabzubeugen. »Vertrau mir, Noroelle«, flüsterte sie in ihr Ohr. »Ich habe viele auf die Jagd geschickt. Und Farodin und Nuramon werden wiederkehren.«
»Ich danke dir, Emerelle. Und ich vertraue dir.«
Meister Alvias trat nun an die Königin heran. »Emerelle, sie warten vor dem Tor.«
Die Königin nickte Alvias zu. Dieser wandte sich um, breitete die Arme aus und rief mit wohltönender Stimme: »Die Elfenjagd steht vor dem Tor.« Er wies mit dem Finger auf die andere Seite des Saales. »Einmal entfesselt, werden sie ihrem Ziel nachjagen, bis sie ihre Aufgabe erledigt haben oder aber gescheitert sind. Wenn wir dieses Tor öffnen, dann gibt es für die Jagd kein Zurück mehr.« Er schritt durch die breite Gasse, die sich in der Mitte des Saales formte. »Wie immer müsst ihr die Königin beraten.« Er musterte einige der Anwesenden, offenbar stellvertretend für alle. Dann sprach er weiter: »Erwägt die Lage. Eine mächtige Bestie! In den Menschengefilden! Nahe unseren Grenzen! Soll die Königin das Tor geschlossen halten und damit hinnehmen, dass dort draußen etwas umherstreift, das auch uns einst gefährlich werden könnte? Oder soll sie das Tor öffnen, auf dass wir die Menschen des Fjordlandes von der Bestie befreien? Beide Pfade können Glück oder Verderben bedeuten. Bleibt das Tor geschlossen, mag die Bestie eines Tages ihren Weg zu uns finden. Öffnen wir das Tor, mag es sein, dass Elfenblut vergossen wird, um den Menschen zu dienen. Ihr habt die Wahl.« Alvias deutete mit sanfter Geste auf Emerelle. »Ratet der Königin, wie sie sich entscheiden soll!« Mit diesen Worten kehrte Alvias zu Emerelle zurück und verbeugte sich vor ihr.
Die Blicke der Anwesenden wanderten zwischen dem Tor und der Königin hin und her. Bald wurden die ersten Stimmen laut, die Emerelle rieten, sie solle das Tor öffnen. Es gab aber auch etliche, die sich dagegen aussprachen. Noroelle sah, dass Nuramons Verwandtschaft dazugehörte. Sie hatte es nicht anders erwartet. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben; doch es war nicht die Angst um Nuramon, sondern die um Nuramons Tod und dessen Folgen.
Die Königin fragte den einen oder anderen, wieso er sich für dieses oder jenes entschieden hatte, und lauschte geduldig den Erklärungen. Dieses Mal hörte sie sich mehr Stimmen an als sonst. Als sie Elemon fragte, einen Onkel Nuramons, wieso er das Tor geschlossen sehen wollte, sagte dieser: »Weil daraus, wie Alvias sagte, Ungemach erwachsen kann.«
»Ungemach?« Die Königin musterte ihn eindringlich. »Du hast Recht. Das mag geschehen.«
Nun trat Pelveric aus Olvedes vor. Sein Wort zählte viel bei den Kriegern. »Emerelle, bedenke das Elfenblut, das vergossen werden könnte. Warum sollen wir den Menschen helfen? Was gehen uns deren Schwierigkeiten an? Wann haben sie uns das letzte Mal geholfen?«
»Das ist lange her«, war alles, was Emerelle zu Pelveric sagte. Schließlich wandte sie sich Noroelle zu und flüsterte: »_Deinen_ Rat will ich hören.«
Noroelle zögerte. Sie könnte der Königin raten, das Tor geschlossen zu halten. Sie könnte wie so viele von Elfenblut und der Undankbarkeit der Menschen sprechen. Doch sie wusste, dass aus solchen Worten nichts anderes als die Angst um ihre Liebsten spräche. Hier aber ging es um mehr als um sie. Leise sagte sie: »Mein Herz hat Angst um meine Liebsten. Und doch ist es richtig, das Tor zu öffnen.«
Die Königin erhob sich würdevoll. Das Rauschen des Wassers an den Wänden schwoll langsam an. Mehr und mehr Wasser drang aus den Quellen, lief die Wände hinab und ergoss sich rauschend in die Bassins. Emerelles Blick war auf das Tor gerichtet. Sie schien nicht zu bemerken, wie sich der glitzernde Wasserdunst in der Luft verteilte, nach oben zur weiten Deckenöffnung des Saales stieg und dort unter dem Licht der Sonne einen breiten Regenbogen erscheinen ließ. Plötzlich glühten die Wände hinter dem Wasser auf. Es zischte, und ein Lufthauch wehte durch den Saal. Die Torflügel schlugen zur Seite und gaben den Blick auf die Jagdgemeinschaft frei. Das Wasser beruhigte sich, doch der Dunst und der Regenbogen blieben.
Die Gefährten verharrten kurz unter dem Torbogen, bevor sie eintraten. An der Spitze ging Mandred der Menschensohn, der mit großer Verwunderung den Regenbogen betrachtete, dann aber der Königin entgegenblickte. Links und rechts dahinter kamen Farodin und Nuramon, hinter ihnen wiederum Brandan der Fährtensucher, Vanna die Zauberin, Aigilaos der Bogenschütze und Lijema die Wolfsmutter. Es war ungewohnt, einen Menschen als Teil der Elfenjagd zu sehen, obwohl er von seinem Wesen her den Elfen ähnlicher war als Aigilaos der Kentaur. Doch in all den Jahren hatte man sich daran gewöhnt, dass Kentauren Teil der Elfenjagd sein mochten. Aber ein Mensch? Dass Mandred an der Spitze ging, ließ das Geschehen noch befremdlicher erscheinen. Stets hatte ein Elf die Jagd angeführt.
Nuramon und Farodin erinnerten an die Helden der Sage. Farodin bot wie gewohnt einen makellosen Anblick, während Nuramon erstmals auch in den Augen der anderen dem Ideal entsprach. Noroelle konnte es deutlich in den Gesichtern der Umstehenden erkennen. Sie freute sich darüber. Selbst wenn sein Ansehen nur von kurzer Dauer sein sollte, diesen Augenblick konnte ihm keiner nehmen.
Die Gemeinschaft schritt der Königin entgegen. Als sie vor der Treppe zum Thron angekommen waren, beugten die Elfen das Knie vor Emerelle, und selbst der Kentaur war bemüht, sich so weit wie möglich zu neigen. Nur Mandred blieb aufrecht stehen, er schien von der Art der Ehrerbietung seiner Gefährten überrascht zu sein. Er war im Begriff, es ihnen nachzutun, als die Königin sich in seiner Sprache an ihn wandte. »Nein, Mandred. In der Anderen Welt bist du der Jarl deiner Gemeinschaft – ein Menschenfürst. Du brauchst das Knie nicht vor der Elfenkönigin zu beugen.«
Mandred machte ein erstauntes Gesicht und schwieg.
»Ihr anderen: erhebt euch!« Auch diese Worte sprach Emerelle auf Fjordländisch. Einige der Anwesenden waren dieser Sprache offenbar nicht mächtig und blickten verstimmt drein.
Fjordländisch! Noroelles Eltern hatten ihr viele Menschensprachen beigebracht, und doch hatte Noroelle Albenmark noch nie verlassen. Das wilde Land der Menschen hatte sie sich bislang nur in ihrer Vorstellung ausmalen können.
Die Königin wandte sich wiederum an Mandred. »Du hast aus meinen Händen eine zweifache Würde empfangen. Du bist der erste Menschensohn, der Teil der Elfenjagd ist. Und ich habe dich außerdem zum Anführer berufen. Ich kann von dir nicht erwarten, dass du dich wie ein Elf benimmst. Deine Wahl hat viele Albenkinder empört. Aber die Macht Atta Aikhjartos ist in dir lebendig. Ich vertraue deinem Gespür. Keiner von uns kennt deine Heimat so, wie du sie kennst. Du wirst deinen Gefährten ein guter Anführer sein. Aber bei allem, was du tust, vergiss nicht, was du mir versprochen hast.«
»Ich halte mein Verspechen, Herrin.«
Noroelle hatte erfahren, welchen Pakt der Menschsohn mit der Königin geschlossen hatte. Sie musterte Mandred und war von seinem Auftreten überrascht. Bisher hatte sie keine Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen, da sie erst spät am vergangenen Abend an den Hof gekommen war. Und in den Palastflügel, in dem die Gemächer der Elfenjäger lagen, hatte sie sich nicht vorgewagt. Doch sie hatte die verschiedenen Gerüchte über Mandred gehört, wenngleich nicht alle zu ihm passen wollten. Gewiss, er war breit wie ein Bär und sah auf den ersten Blick bedrohlich aus mit all seinem Haar, das rot war wie der Sonnenuntergang und ihm ungezügelt auf die Schultern fiel. Er hatte einige dünne Zöpfe hineingeflochten und trug einen Bart wie viele der Kentauren. Seine Züge waren grob, aber ehrlich. Er erschien ihr ungewöhnlich blass, und dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Vielleicht hatte er vor Aufregung nicht geschlafen? Gewiss war er sehr stolz auf die Ehrung durch die Königin. Er trug nun große Verantwortung. Noroelle erschauderte bei dem Gedanken, welchen Preis er für die Hilfe zu zahlen hatte. Sie würde ihr Kind niemals aufgeben, wenn sie überhaupt einmal eines bekommen sollte. Nachdenklich musterte sie ihre beiden Geliebten. Die Frage war wohl nicht, ob, sondern mit wem sie ein Kind bekommen würde.
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