Als Nuramon sich an Mandreds Seite zur Shalyn Falah aufmachte, beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl. Gewiss, die Brücke war noch nie eingenommen worden, und Farodin hatte mehr Erfahrung als sie beide zusammen. Und doch …
Während sie das Schlachtfeld passierten, jubelten Scharen von Kriegern ihnen zu. Nuramon sah seine Verwandten, die ihm zuwinkten und begeistert seinen Namen riefen. Die Mandriden reckten ihre Äxte und Schwerter in die Höhe und schrien: »Lang lebe Mandred, Jarl von Firnstayn!«
Als sie das Schlachtfeld hinter sich ließen, sagte Mandred: »Jetzt noch Farodin helfen, und dann mit zwei hübschen Mädels die Nacht verbringen!«
»Mit zwei?«, fragte Nuramon.
»Ja. Das war was gestern! Zuerst habe ich den beiden meinen …«
»Bitte, Mandred! Erspare mir deine Liebesabenteuer! Du findest nicht die Worte, die für Elfenohren angenehm klingen.«
»Du bist nur neidisch, weil ich gleichzeitig mit zwei…«
Nuramon lachte. »Halt ein, Mandred! Sprich nicht das aus, was bereits in aller Klarheit in meiner Vorstellung erwacht ist und mir jeden Gedanken an etwas Holdes verdirbt. Bitte!«
Mandred lachte. »Was weißt du schon von der Poesie einer Nacht zu dritt.«
»Lass uns lieber reiten«, schlug Nuramon vor. Diese Wortgeplänkel hatte er vermisst. Er wünschte sich, Mandred könnte ihn und Farodin begleiten. Doch es würde gewiss schwer werden, den Jarl aus dem Bett seiner beiden Geliebten zu reißen.
Sie galoppierten über das Grasland. Bis zur Shalyn Falah würden sie gewiss einige Stunden brauchen. Sie hatten etwa die Hälfte des Weges hinter sich gelassen, als Mandred sich ein wenig zurückfallen ließ. Als aber seine Stute unruhig wieherte, drehte Nuramon sich um. Sein Freund war im Sattel zusammengesunken !
Felbion stürmte der wiehernden Stute entgegen und kam neben ihr zum Stehen. Mit zitternden Händen berührte Nuramon seinen Gefährten und versuchte ihn aufzurichten. »Mandred!«, rief er.
Der Jarl schreckte auf und schaute sich unsicher um. Er taumelte und fiel dann aus dem Sattel.
Nuramon sprang vom Pferd und drehte ihn behutsam auf den Rücken.
Mandred schaute ihn aus angstgeweiteten Augen an und presste die Hand auf den Bauch. »Es ist wohl mehr als nur ein Kratzer«, flüsterte er und löste die Hand von seinem Körper. Die Brustplatte der Rüstung war unversehrt. Doch als Nuramon nach der breiten Bauchbinde griff, wurden seine Hände rot von Blut. Erschrocken zerrte er die Binde zur Seite und entdeckte ein rundes Loch in der Rüstung. Mit zitternden Händen löste der Elf die Schnallen der Brustplatte. Auch das gepolsterte Leinenhemd hatte sich mit Blut voll gesogen. Mit seinem Dolch zerschnitt Nuramon den zähen Stoff. Die Wunde in Mandreds Bauch war voller faseriger Kleidungsfetzen. Sie musste von der Kugel eines dieser unheimlichen Feuerrohre stammen. Vorsichtig tastete Nuramon nach Mandreds Rücken. Die Kugel hatte den Körper nicht verlassen. »Hast du keine Schmerzen?«, fragte Nuramon.
»Nein«, sagte Mandred überrascht. »Mir ist nur so … schwindelig.«
Mandred hatte viel Blut verloren, und er würde sterben, wenn nichts geschah. So legte Nuramon seine Hand auf die Verletzung und begann mit seinem Heilzauber. Er erwartete den Schmerz, und dieser kam auch, doch weit schwächer, als Nuramon angenommen hatte. Dann merkte er, dass sich die Wunde zwar unter seinen Fingern schloss, aber seine Magie nicht ins Innere von Mandreds Körper gelangte. Er bekam Angst. Der Schmerz verschwand, doch Mandred war nicht geheilt. Dass er die Bauchwunde verschlossen hatte, würde nicht helfen. Nun sammelte sich das Blut in Mandreds Leib, ohne ablaufen zu können. Der Tod würde ihn etwas langsamer ereilen, das war alles, was erreicht war. Noch einmal sammelte Nuramon all seine Kräfte. Doch wieder scheiterte er.
»Was ist das nur?«, fragte er sich. Irgendetwas störte seinen Zauber; etwas, das in Mandred war. Es konnte nur die Kugel sein. War es das letzte böse Geschenk des Devanthars an seine Gefolgsleute? Vielleicht konnten diese Schusswunden mit Elfenmagie nicht geheilt werden.
»Ich glaube, das ist das Ende, Nuramon«, flüsterte Mandred. »Und was für ein Ende das für einen Menschen ist!«
»Nein, Mandred!«
»Du warst mir immer …« Seine Augen schlossen sich, und er atmete erschöpft aus.
Nuramon schüttelte den Kopf. So durfte Mandreds Leben nicht enden! Er tastete nach dem Puls seines Freundes. Er war noch da. Der Atem ging nur mehr schwach. Mit großer Mühe hob Nuramon den schweren Menschenkönig auf Felbion und setzte sich dann hinter ihn in den Sattel. Dann ritt er in Richtung des Heerlagers vor der Burg der Königin. Sie lag näher als die Shalyn Falah.
Er machte sich Vorwürfe. Es war seine Schuld, wenn Mandred nun stürbe. Er hatte in der Schlacht selbstsüchtig seine eigenen Wunden geheilt und gewiss zu viel Kraft dabei aufgewendet; Kraft, die ihm nun fehlte, da sie einen Freund retten sollte. Er würde es sich nie verzeihen, wenn Mandred wegen seiner Unfähigkeit sterben müsste.
Während er im Galopp voranpreschte, drang in der Ferne ein gleißendes Licht gen Himmel und verbreitete sich wie ein vielfach verästelter Blitz. War das der Beginn des Zaubers, auf den sie gewartet hatten? Nuramon wünschte sich, einen Hauch dieser Macht zu Mandreds Heilung gewinnen zu können. Im Augenblick des Triumphes traf das Schicksal ihn und seine Gefährten mit voller Wucht. Er konnte nur hoffen, dass es Farodin bei der Shalyn Falah nicht ähnlich erging.
Sie hatten sich über die Mitte der Brücke zurückziehen müssen. Langsam verloschen die Flammen von Balbars Feuer. Auf dem Klippenweg standen hunderte von Ordenssoldaten, bereit für den letzten Angriff. Sobald das Feuer herabgebrannt war, würde der letzte Sturmlauf beginnen.
An Farodins Seite standen nur noch Orgrim und Giliath. Alle anderen Kämpfer der zusammengeschmolzenen Schar der Verteidiger hatten sich zur Festungsmauer jenseits der Brücke zurückgezogen.
Farodin sah verzweifelt zum Himmel hinauf. Bis zur Dämmerung würde es noch mindestens zwei Stunden dauern. So lange konnten sie die Brücke nicht halten. Eine Brise benetzte sein Gesicht mit Gischtwasser. Das Donnern der Wasserfälle hatte etwas Beruhigendes. Wie weiße Adern zogen sie sich die Felsen hinab. Das Sprühwasser ließ die Oberfläche der Brücke spiegelglatt werden. Die Shalyn Falah war gerade einmal zwei Schritt breit und sie hatte kein Geländer. An diesem Tag war Farodin den längst vergessenen Baumeistern dankbar für ihre seltsame Brücke. Mehr als drei Mann konnten hier nicht nebeneinander stehen. Und wer die Brücke betreten wollte, der musste schwindelfrei sein, oder er würde dem Ruf des Abgrunds nicht widerstehen.
»Heißt es nicht, man dürfte auf der Shalyn Falah kein Blut vergießen?«, fragte Orgrim. Der Troll musste schreien, um das Tosen des Wasserfalls zu übertönen.
Farodin blickte auf die blassrosa Flecken, die langsam vom Sprühwasser weggewaschen wurden. »Dieselbe Frage habe ich gestern Nacht Ollowain gestellt. Er meinte, der Stein der Brücke werde so schlüpfrig, dass man sie nicht mehr überqueren könne, wenn sie mit Blut benetzt sei. Ich habe aber auch von einer Prophezeiung gehört, in der es heißt, dass an dem Tag, an dem der weiße Stein der Shalyn Falah mit Blut besudelt werde, sich ewige Finsternis auf die Brücke senken werde.«
»Ich glaube, mir liegt eher die erste Geschichte«, murmelte der Trollfürst. Blut troff von seinem Verband am Arm. Dennoch hielt er den schweren Schild hoch, den er von einem Sterbenden genommen hatte.
Die Flammen des Feuers am Brückenaufgang schlugen nicht einmal mehr einen Schritt hoch. In die Truppen auf dem Steilweg kam Bewegung.
Ein Schuss krachte. Einige Schritt vor ihnen schlug eine Bleikugel auf den weißen Stein.
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