Was außer Noroelle gab es in dieser Welt, das ihn noch hier halten konnte? Seine Eltern waren längst ins Mondlicht gegangen. Geschwister hatte er keine und Freunde ebenso wenig. Da war nur Noroelle. Allein sie schien sein Erbe nicht zu bekümmern. Und hätte sie die Entscheidung der Königin vernommen, so hätte sie ihre Freude mit ihm geteilt. Sie wäre zu ihm in dieses Gemach gekommen.
Nuramon hatte die Geschichten von der letzten Elfenjagd gehört. Die Gefährten waren ausgezogen und hatten einen Trollfürsten vom Kelpenwall fern gehalten. Die Familien hatten den Jägern Waffen und allerlei Kostbarkeiten vorgelegt, aus denen sie hatten auswählen dürfen. Und jene, deren Gaben von den Jägern angenommen worden waren, waren mit Stolz erfüllt gewesen.
Gewiss überreichte man in diesem Augenblick, da er hier allein war, seinen Gefährten in den anderen Kammern die Ausrüstung. Bestimmt waren sogar einige bei dem Menschensohn. Nuramon fragte sich, ob jemals zuvor ein Elf einen Menschen beneidet hatte.
Das Geräusch von Schritten vor der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um, in der Hoffnung, dass es ein Vetter, eine Base, ein Onkel oder eine seiner Tanten wäre, irgendeiner aus seiner Familie. Noch ehe die Tür sich öffnete, hörte Nuramon eine Frauenstimme seinen Namen nennen. Die Tür öffnete sich. Eine Frau im grauen Gewand einer Zauberin trat ein.
»Emerelle«, sagte er überrascht. Seine Herrin sah völlig verändert aus. Sie wirkte nun weniger wie eine Königin, sondern eher wie eine reisende Zauberin von großer Macht. Ihre hellbraunen Augen funkelten im Schein der Barinsteine, und auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. »_Du_ kommst zu mir?«, fragte er.
Sie schloss die Tür. »Und wie es scheint, bin ich die Einzige.« Sie trat an ihn heran und tat dies mit solcher Eleganz und Macht, dass Nuramon glaubte, eine Elfe aus den alten Tagen der Heldensagen vor sich zu haben. Die Königin hatte diese großen Zeiten noch miterlebt. Sie war nicht von Elfen gezeugt; sie stammte direkt von den Alben ab und hatte sie noch gesehen, bevor sie die Welt verlassen hatten. Irgendwo in dieser Burg verbarg Emerelle ihren Albenstein, das Kleinod, welches ihr die Alben hinterlassen hatten und das sie einst verwenden würde, um ihnen zu folgen. Warum aber kam sie zu ihm wie eine Magierin?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, antwortete sie: »Es ist Tradition, dass die Königin jedem Mitglied der Elfenjagd einen Besuch abstattet. Und da ich überall Stimmen hörte außer bei dir, wollte ich hier den Anfang machen.« Sie blieb vor ihm stehen und blickte ihn erwartungsvoll an.
Ein Hauch von frischen Frühlingsblüten stieg ihm in die Nase. Es war der Duft der Königin, und er besänftigte ihn. »Verzeih mir«, sagte er leise. »Ich bin nicht mit allen Traditionen vertraut.« Er senkte den Blick.
»Hast du nie davon geträumt, an der Elfenjagd teilzunehmen? Jedes Kind träumt davon, kennt die Traditionen und jeden einzelnen Schritt des Weges in dieser Nacht.«
Nuramon seufzte und sah ihr ins Gesicht. »Ein Kind, das nirgends Anerkennung findet, träumt von kleineren Dingen.« Er dachte an die Zeit, nachdem seine Eltern ins Mondlicht gegangen waren. Er war fast noch ein Kind gewesen, doch niemand war gekommen, um sich seiner anzunehmen. Seine Verwandten hatten ihn abgewiesen, und so war er in das Baumhaus seiner Eltern zurückgekehrt. Dort war er einsam gewesen. Allein die Albenkinder, denen der Fluch nichts bedeutete, welchen die Elfen in ihm sahen, hatten ihn in ihrer Nähe geduldet. Und das waren keineswegs viele gewesen.
»Ich weiß, wie schwer es ist«, sagte die Königin und holte Nuramon mit ihren Worten aus seinen Erinnerungen zurück. »Doch meine Entscheidung wird ein Zeichen für die anderen sein. Noch sind sie überrascht, aber bald schon werden sie dich mit anderen Augen sehen.«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben.« Er wich Emerelles Blick aus.
»Schau mich an, Nuramon!«, forderte sie. »Du darfst nicht vergessen, dass ich auch deine Königin bin. Ich kann die anderen nicht dazu bewegen, dich zu lieben. Aber ich werde dich behandeln, wie ich sie behandle. Du fühlst dich einsam und fragst dich, ob du überhaupt noch den Elfen zugehörig bist. Doch schon bald werden die anderen dein wahres Wesen erkennen.« Sie senkte den Blick. »Du hast dein Leid der jungen Jahre überwunden. Es scheint, als hätte Noroelle Kräfte in dir geweckt, die keiner für möglich gehalten hätte. Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich dir die Anerkennung schenke, die du gemäß deiner Eigenschaften verdienst.«
»Und ich werde diese Gelegenheit nutzen, Emerelle.«
Die Königin schaute sich zur Tür um. »Da niemand kommt, die Jäger aber seit jeher ausgestattet werden, möchte ich mich deiner Ausrüstung annehmen. Ich werde sie später in dein Gemach bringen lassen.«
»Aber …«
»Nein, sag nicht, es stünde dir nicht zu! Schau nach dort oben.« Sie deutete auf das Abbild einer Elfe, die gegen einen Drachen kämpfte. »Das ist Gaomee. Sie besiegte den Drachen Duanoc, der durch das Tor von Halgaris in unsere Gefilde gelangt war.«
Gaomee! Duanoc! Halgaris! Das waren Namen aus der Sage, die auf große Taten verwiesen und an heldenhafte Zeiten erinnerten.
Viele Drachen waren einst nach Albenmark gekommen, doch nur wenige hatten ihren Platz in dieser Welt gefunden und waren mit Elfen ein Bündnis eingegangen. Aber Duanoc war weit davon entfernt gewesen, einen solchen Pakt zu akzeptieren. Zumindest erzählte man es sich so. Und die junge Gaomee hatte ihn erschlagen. Nuramon lief ein Schauer über den Rücken.
Die Königin sprach weiter. »Gaomee hatte keine Familie mehr. Ich habe sie erwählt und auch damals für große Überraschung gesorgt. Ich sah in ihr etwas, das ich einst in mir selbst gesehen hatte.« Emerelle schloss die Augen und zog Nuramon völlig in ihren Bann. Nie zuvor hatte er die geschlossenen Augenlider der Königin gesehen. So mochte sie aussehen, wenn sie schlief und von Dingen träumte, die nur eine Elfe von außergewöhnlicher Macht begreifen konnte. »Ich sehe Gaomee so klar in meiner Erinnerung … Sie stand hier vor mir, und die Tränen liefen über ihre Wangen. Sie besaß keine passende Ausrüstung, um mit den anderen gegen Duanoc auszureiten. Also stattete ich sie aus. Es soll nicht sein, dass einer der Jäger schlecht ausgerüstet ist, besonders wenn es in die Reiche der Menschen geht.«
»Dann will ich es annehmen.« Nuramon schaute hinauf zur Freske der Gaomee und verlor sich in ihrem Anblick. Die Königin hatte ihm einen Weg aufgetan, von dem er nie geglaubt hatte, dass er ihm offen stünde. Längst hatte er sich damit abgefunden, abseits der anderen stehen zu müssen.
»Ich weiß, es ist neu für dich«, sagte die Königin leise und holte ihn abermals aus seinen Gedanken zurück. »Doch dies ist ein Wendepunkt für deine Seele. Nie war einer, dem man den Namen Nuramon gegeben hat, Mitglied der Elfenjagd. Du bist der Erste. Und weil mit der Elfenjagd auch Elfenruhm verbunden ist, werden sich viele bei deiner Rückkehr neu entscheiden müssen, ob sie dir mit Spott oder aber mit Anerkennung begegnen wollen.«
Nuramon musste lächeln.
»Warum lächelst du? Lass mich an deinen Gedanken teilhaben«, forderte Emerelle.
»Ich muss an die Angst denken, die ich in den Gesichtern meiner Verwandten gesehen habe, als du mich berufen hast. Nun bin ich mehr als nur eine Schande, ich bin eine Gefahr. Sie müssen fürchten, dass ihnen im Fall meines Todes ein Kind geboren wird, das meine Seele trägt. Eigentlich sollten sie hier sein, um mir die beste Ausrüstung zu übergeben, in der Hoffnung, dass ich überlebe. Aber die Abscheu mir gegenüber scheint größer zu sein als die Angst vor meinem Tod …«
Emerelle schaute ihn gütig an. »Nimm sie nicht so sehr ins Gericht. Sie müssen sich erst an die neue Lage gewöhnen. Nur die wenigsten, die durch die Jahrhunderte gehen, gewöhnen sich schnell an das Neue. Niemand konnte ahnen, dass ich dich berufe. Nicht einmal du selbst hast es erwartet.«
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