»Vorsichtig. Du solltest dich hinlegen«. Die Stimme klang seltsam fern. Hände ergriffen sie. Sie sank nach hinten, doch sie kam nicht auf dem Boden zu liegen. Stattdessen glitt sie davon in die Dunkelheit.
Er war, als versinke sie in Wasser. Nur dass sie atmen konnte. Sie fühlte sich angenehm schläfrig. Langsam glitt sie tiefer. Die Dunkelheit rings herum war vollkommen.
Lange Zeit ließ sie sich treiben. Manchmal streifte sie etwas Klebriges. Aber sie war zu müde, um die Augen zu öffnen. Dann blieb sie hängen. Sie blinzelte und blickte in acht bernsteinfarbene Augen. Kadlin wollte schreien, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Ein Zangenpaar nahm sie auf. Dann trug die riesige Spinne sie davon.
Spinnen waren die heiligen Tiere Luths, das wusste Kadlin, aber in den Liedern der Skalden hatte sie noch nie von pferdegroßen Spinnen mit Beinen, so lang wie Schiffsmasten gehört.
Die Spinne eilte über silberne Fäden. Langsam wurde es heller. Kadlin sah einen Himmel voller silberner Fäden über sich. Manchmal zerriss einer von ihnen, und ein Leib glitt daran hinab. Noch andere Spinnen waren unterwegs. Die Jägerin konnte beobachten, wie eine strampelnde Gestalt in Fäden eingewoben wurde. Als der Mann endlich ganz still lag, kamen kleinere Spinnen und krochen zwischen den Fäden hindurch.
Kadlin wandte den Blick ab. In der Ferne sah sie ein goldenes Licht. Es wurde größer. Bald erkannte sie eine weit geöffnete Tür, sie gehörte zu einer Halle, deren weites Dach sich im Zwielicht verlor. Das Langhaus war über und über mit silbernen Fäden bedeckt.
Behutsam legte die Spinne Kadlin an der Tür ab. Ein derbes Zechlied kam der Jägerin vertraut vor. Es handelte von Mandred, der ein Hurenhaus besuchte. Der süße Duft von Met stieg Kadlin in die Nase.
Sie richtete sich auf. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Hinter dem Tor lag ein goldener Saal. Hunderte Krieger zechten und sangen dort. »Björn Lambison?« Wie Donnerschlag hallte der Name in dem weiten Saal. Das Lied verstummte. Alle blickten zur Tür. Und dann stand er vor ihr! Er sah gut aus. Ein wenig betrunken. »Was tust du hier?« Statt zu antworten, wollte sie ihn einfach nur in die Arme schließen.
»Tritt nicht über die Schwelle!«, warnte eine Ehrfurcht gebietende Stimme. König Alfadas trat zwischen den Gästen der Halle hervor. An seiner Seite ging Kalf. »Wenn du die Schwelle überschreitest, verwirkst du dein Recht auf deinen warmen, atmenden Leib. Was tust du hier, Kadlin? Du solltest nicht an diesem Ort sein.«
Sein Tonfall ärgerte sie. Von Kalf würde sie sich so etwas sagen lassen, aber ein toter König hatte ihr nicht mehr zu gebieten! Einen Augenblick lang war sie versucht, Alfadas zurechtzuweisen. Doch dann beherrschte sie sich und erzählte von der Not Albenmarks und davon, dass Emerelle glaubte, nur einer der Helden aus den Goldenen Hallen könne die Yingiz vertreiben.
Der König wirkte traurig. »Weißt du um den Preis, den dein Held zahlen wird? Wer die Goldenen Hallen verlässt, der kann nicht mehr zurück. Er wird im nächsten Morgengrauen vergehen. Seine Seele verlischt.« Er deutete in das Licht. »Dies ist unendlich mehr als eine Halle. Was du siehst, ist nur der Eingang. Asla ist hier.« Kadlin stutzte. Was hatte der König mit ihrer Mutter zu schaffen?
»Ich werde gehen!« Zwischen den Recken längst vergangener Zeiten erschien Ulric. Ihn zu sehen erschreckte Kadlin. Warum war auch er schon hier? Was war geschehen? Wie im Leben, so war auch hier Halgard an seiner Seite.
»Du schuldest ihr nichts, Junge.«
»Ich weiß.« Er wandte sich an Kadlin. »Ist Albenmark so schön, wie die Skalden sagen?«
»Nicht der Ort, zu dem du gehen würdest.«
Ein Mann ohne Nase, aber mit einem Freund
Skanga sah die beiden Lichtgestalten verblassen. Sie hatten die Yingiz das Fürchten gelehrt. Es war eine Freude gewesen zuzuschauen, wie die Schatten auseinander stoben und zurück ins Nichts flohen. Was die Menschen wohl an sich hatten, dass sie die Yingiz besiegen konnten? Lag es an ihren Göttern? »Wie lange dauert es noch, bis die Sanduhr abgelaufen ist?«
»Weniger als eine Stunde«, antwortete Birga.
Skanga würde es den anderen gegenüber nicht eingestehen, aber sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Noch immer hielt die Schamanin den schützenden Kokon aufrecht.
Jetzt versperrte sie damit das Tor. Doch das konnte so nicht ewig weiter gehen. Wenn Emerelle sie hereinlegte, dann war das Opfer der beiden Lichtgestalten vergebens gewesen.
Skanga blickte zu dem Mädchen. Ihre Lebensaura war fast verloschen. »Wann wird sie erwachen, Alathaia?«
»Ich glaube nicht, dass sie zu uns zurückkehrt. Sie wird den Rückweg nicht finden.« Skanga schnaubte ärgerlich. Elfenpack! Man konnte ihnen einfach nicht trauen. »Warum hast du sie belogen?«
»Das habe ich nicht«, entgegnete Alathaia in aller Ruhe. »Im Gegenteil, ich sagte ihr ausdrücklich, dass sie sterben wird. Nur nicht in dieser Nacht. Doch nun ist die Nacht vorüber.«
»Ist Emerelle so wie du?«, fragte Birga.
»Nein. Ich glaube, sie ist mir in fast jeder Hinsicht überlegen.«
Wunderbar, dachte Skanga. »Kann man der Kleinen irgendwie helfen?«
»Nein. Meliander schrieb in seinem Buch, dass man zwar einen Boten zu den Goldenen Hallen schicken könne, aber sie fänden den Rückweg nicht mehr. Das Tor, durch das sie gekommen sind, bleibt ihnen verborgen.« Skanga dachte über Elfen nach. Man konnte sie nur hassen! Niemand sprach mehr. Die alte Schamanin beobachtete, wie die Lebensaura des Mädchens weiter verblasste. »Wie lange noch?«, fragte sie endlich.
»Etwas länger als eine halbe Stunde.« Schritte.
»Da kommt ein Mensch. Ein ziemlich hässlicher Kerl. Er hat keine Nase.« Skanga blickte in Richtung der Schritte. Der Mann hatte eine starke Aura, obwohl sie auch Anzeichen von Alter zeigte.
»Versteht ihr mich?«, fragte er höflich.
Niemand antwortete ihm.
Er kniete neben dem Mädchen nieder. Rot pulste unter den Farben seiner Aura. »Warum lasst ihr sie sterben?«
»Weil man mit dem Tod nicht feilschen kann«, antwortete Alathaia. »Sie hat ihre Aufgabe erfüllt. Sie wusste, was sie erwartet«, log die Elfe.
»Du irrst dich, meine Dame. Kadlin hat ihre Aufgabe keineswegs erfüllt. Sie ist meine Königin. Ich soll sie zurückholen.«
»Manchmal macht ein Lakai einen Botengang vergebens.«
Alathaia genoss es offensichtlich, sich die Zeit damit zu vertreiben, den Kerl zu quälen. Vielleicht wäre sie ein wenig zurückhaltender, wenn sie die Aura des Menschen sehen könnte, dachte Skanga.
»Mein Freund sagte mir schon, dass ihr nicht sehr freundlich seid. Aber als ein Fremder in dieser Welt wollte ich höflich sein. Versuchen wir es also anders. In dem Augenblick, in dem Kadlins Herz aufhört zu schlagen, wirst du mit einem faustgroßen Loch in der Stirn auf dem Boden liegen, und weil ich ein rachsüchtiger Mann bin, werde ich dir die Leber aus deinem bleichen Leib schneiden und an meine Hunde verfüttern.«
»Du nimmst den Mund sehr voll.«
»Und du hättest vielleicht besser keinen Saal ohne Decke betreten, über dem sich ein hoher Turm mit vielen Fenstern erhebt. Es sind mehr als zwanzig Schritt bis zur Tür. Glaubst du, du könntest einem Pfeil davonlaufen?« Skanga blickte zu dem Turm. Sie nahm ihn nur als einen undeutlichen Schemen war.
»Und wenn wir dem Mädchen nicht mehr helfen können? Hast du erwogen, dass das, was du verlangst, jenseits unserer Möglichkeiten liegen könnte?«, fragte Alathaia. Den überheblichen Tonfall hatte sie nun abgelegt.
»Wenn dem so ist, steht euch ein wirklich hässlicher Tag bevor.«
»Was haben wir damit zu tun?«, fragte Birga aufgebracht.
»Trolle konnte ich noch nie sonderlich leiden. Wenn Kadlin stirbt, dann werdet ihr sie alle drei auf ihre letzte Reise begleiten.«
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