Der Boden war für Ashe wie ein Rettungsring, auch wenn er schlüpfrig war und andauernd ins Meer abglitt, wenn die Brecher darüberrollten. Er ließ das Schwert los, drehte sich rasch auf den Bauch und schaute nach, ob Rhapsody noch lebte. Als er sich dessen sicher sein konnte, wandte er sich dem Bolg-König zu, der sich die Lunge aus dem Leib hustete.
Die nächste Welle, die gischtend über den Strand rollte, war schon flacher und zeichnete Echos der letzten nach, erreichte aber nicht mehr deren Gewalt. Als das Wasser zurückschwappte, blieben Teile von Holz und Seil übrig – die Reste des untergegangenen Schiffes. Keines der Stücke war größer als gewöhnliches Treibholz.
Ashe zog seine Frau in die Arme und drückte sie fest an sich, damit er ihr so viel Wärme wie möglich geben konnte. Der Drache in seinem Blut schätzte sie ab und bemerkte, dass ein wenig Körpergewicht fehlte. Die Haut war eingesunken und bleich vom Salz und dem endlosen Wasser aus ihrer Zeit in der Höhle; das Haar war verfilzt und gedunkelt und dort zerzaust, wo sie es abgeschnitten hatte. Als er sah, wie dünn Hände und Hals waren, musste er die Tränen zurückhalten.
Aber sie war zu Hause – aus dem Meer zurückgekehrt.
Und in ihr wuchs noch immer das Kind. Es war stark; er spürte deutlich seine Gegenwart. Er zog sie näher an sich heran, sprachlos vor Erleichterung, und passte seinen Atem dem ihren an. So schwelgte er in dem heiseren Geräusch des Lebens, das von ihr ausging, und legte schließlich den Kopf in den Sand. Die Sonne blendete ihn.
Er bemerkte, wie neben ihm der Bolg-König aufstand und sich noch immer von dem Meer in ihm befreite. Dann ging er die Küste entlang.
Achmed schaute den Windgepeitschten Strand hinunter zu dem schwarzen, zerklüfteten Felsbett, über das die Brandung donnerte. Dort hatte MacQuieth die Bestie mit in das Meer genommen. Wo vorhin quellender Dampf und angeschwollene Gischt gewesen waren, herrschte nun Frieden. Das Meer war zu seinem ewig gleichen, heftigen Anbranden zurückgekehrt; die Wellen kamen weiß herein und eilten wieder hinaus, wobei sie die oberste Sandschicht mitnahmen.
Behutsam setzte er einen Fuß in das Wasser.
»Siehst du ihn?«, fragte Ashe, während er aufstand und Rhapsody mit sich zog. »Siehst du irgendetwas?«
Achmed blinzelte und schüttelte den Kopf.
»Michael?«, flüsterte Rhapsody mit vom Salz aufgerauter Stimme.
Ashe legte den Arm um sie.
»MacQuieth«, sagte er. »Er war es, der Michael gefunden hat. Er hat ihn von der Klippe gestürzt und ist zusammen mit ihm ins Meer gefallen. Vielleicht hat er sogar den Dämon in sich aufgenommen.« Er verstummte. Ein Gefühl des Verlustes überwältigte ihn.
»Könnte er nicht überlebt haben?«, fragte Rhapsody. Sie beugte sich tiefer über den Rand des Wassers und schaute in die stäubende Gischt. »Glaube mir, es gibt tausende von Plätzen, wo man Unterschlupf finden kann.«
Achmed seufzte tief auf und watete an der Stelle, wo die Wellen sich brachen, vorbei ins Meer hinein. Langsam bückte er sich, bis seine empfindsame Haut untergetaucht war, und lauschte. Nach einem Augenblick richtete er sich rasch auf, schüttelte den Kopf und lief aus dem Meer hinaus.
»Nein«, sagte er. »Sein Herzschlag ist verschwunden, genau wie der Gestank des Dämons. Ich habe ihn einmal gehört; er klang wie eine große Glocke. Hier ist jetzt nichts mehr als der Klang der Wellen.«
»Welch ein unermesslicher Verlust«, sagte Ashe leise. »Stell dir vor, was er in seinem langen Leben gesehen hat und was er uns hätte sagen können. In den wenigen Tagen, die wir mit ihm verbracht haben, habe ich mehr über die Insel und meine Vorfahren gelernt als in der ganzen Zeit davor. Nun kenne ich den Stamm von Soldaten, aus dem Anborn hervorgegangen ist. Beide waren Blutsverwandte.« Er schirmte die Augen vor dem roten Glühen der Sonne am Rande des Horizonts ab. Es war ein helles Stück schwindenden Feuers. »Anborn hat ihn endlos lange studiert und ihn verehrt. Es war MacQuieth, nach dem er sein ganzes Leben ausgerichtet hat. So ein unersetzlicher Verlust für uns alle. Und dennoch ...«
Er erinnerte sich an den Anblick des alten Mannes, wie er blind im Licht der Morgensonne umherging. Er konnte sie nicht sehen, aber ihre Wärme spüren. Ihre Pracht war dicht hinter seinen Sinnen verborgen.
Der All-Gott schenke Euch einen guten Tag, Gevatter.
Wenn er das täte, wäre ich jetzt nicht mehr unter den Lebenden. Alle Jahre, die ich noch vor mir habe, und alle, die ich bereits gelebt habe, würde ich gegen einen eintauschen, an dem ich noch einmal sehen kann, was im Abgrund der Zeit verloren gegangen ist.
Ich verstehe.
Wirklich? Hmm. Das glaube ich nicht. Aber ich vermute, eines Tages, vielleicht in tausend oder mehr Jahren, wirst du es verstehen.
»Und dennoch was?«, fragte Rhapsody.
»Dennoch gibt es nichts, was zu betrauern wäre«, sagte Ashe nur. »Er hat seinen Frieden gefunden.«
Rhapsody nickte und wischte sich die schweren Locken aus den Augen. Sie erinnerte sich an Worte, die sie vor langer Zeit zu Elynsynos gesagt hatte, als sie der Drachin über den Verlust ihres gestorbenen Seemannes hinweggeholfen hatte.
Seeleute finden ihren Frieden im Meer, so wie die Lirin ihn im Wind unter den Sternen finden. Wir übergeben unsere Körper dem Wind durch das Feuer, nicht durch die Erde, so wie Seeleute den ihren dem Meer übergeben. Der Schlüssel zum Frieden liegt nicht dort, wo dein Körper ruht, sondern dort, wo dein Herz ist.
»Ich werde ein Requiem für ihn singen«, sagte sie.
»Und für seinen Sohn Hector«, meinte Ashe. »Er ist in den letzten Tagen der Insel auf ihr zurückgeblieben. MacQuieth hat es nie übers Herz gebracht, für ihn ein Requiem zu singen. Vielleicht kannst du es für sie beide tun.«
Rhapsody nickte und wischte sich das Salz unter den Augen weg. Sie raffte all ihre Stärke zusammen und ging zum Rand des Wassers. Ashes Hand lag noch in ihrer, und sie berührte Achmeds Schulter. Die Männer standen schweigend neben ihr, als sie die Stimme erhob, die rau und brüchig wie die einer alten Frau war. Sie sang die alte Vesper für die Sonne und das Lied des Scheiterhaufens für Vater und Sohn, die nun beide im Meer ruhten.
Sie sang die alten Weisen, die sie in der Gezeitenhöhle gelernt hatte. Das Meer hatte sie ihr beigebracht; es war der Ruf des Windes und der Rhythmus der Wellen, endlos und unablässig, in allen Farben und Tönen, die ihre Ohren erfüllt hatten, während sie in der Umarmung des Wassers geschwebt hatte. Es war ein Lied, das nun in ihrem Blut widerhallte, ein Lied von Herzen über ihren Großvater, der das Tiefland verlassen hatte, um zur See zu fahren, ein Lied, gewebt aus den Weisheiten, die sie gelernt hatte, ein Lied über das Kind, das sie trug und das nun und für immer in den Geheimnissen der Wasserwelt unterwiesen war, ein Lied über die verborgenen Berge, die unsichtbaren Schönheiten und die Schätze, die unter den rollenden Wogen lagen. Sie sang von dem Leben der beiden Soldaten, das eine kurz, das andere weit über jede Vernunft verlängert. Beide waren starke Wächter gewesen und nun Teil des nie endenden Rhythmus der See, Teil ihrer Weisheit.
Teil ihres Liedes.
Der Ozean brüllte dazu, die salzfleckige Luft über den tosenden Wellen peitschte ihr ins Gesicht, alle Farben des Lichts waren zu einem ewigen, wirbelnden Tanz verschlungen. Es war eine Sinfonie der Zeit, eine endlose Totenklage, eine Elegie, ein Schlaflied, ein Schöpfungsgesang, ein Vernichtungsgesang, ein Lied stiller, unablässiger Wächterschaft und vollkommener Unausweichlichkeit. Lebt eure menschlichen Leben, wie lang sie auch immer sein mögen; in den Augen der Unsterblichkeit sind sie nur ein Flackern.
Sie sang die Sonne hinab und verstummte dann. Stimme und Stärke waren vergangen. Sie wandte sich an ihren Gemahl und fragte, solange sie noch reden konnte: »Hat Anborn es überlebt?«
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