Gemeinsam schoben die Männer das Rad an. Zuerst geschah nichts. Dann, nach einem weiteren Stoß, glitt es über die Metallschienen. Dabei wurde es immer langsamer. Eine Vibration entstand, ein klarer, süßer Ton, zu dem das Rad in bedächtigem Gleichklang schwang. Das zitternde Licht aus der vielfarbigen Decke wurde von den Kristallrefraktoren eingefangen, die zuckende Farbblitze durch den Raum schickten. Während das Rad noch langsamer wurde, schmolzen die Farben zu einem glänzenden, pulsierenden Bogen aus rotem Licht zusammen, das dort zum Stillstand kam, wo Omet lag.
Lisele-ut, rot.
Blutretter.
Natürlich erkannte keiner der Männer den Ton. Es war Benenner-Magie, altes und tiefes Wissen aus einer anderen Zeit und einem anderen Land. Wenn sie darüber nachgedacht hätten, wären sie vielleicht dahinter gekommen, dass die genauen Aufzeichnungen, die Gwylliam über die Errichtung aller Teile des Lichtfängers hinterlassen hatte – angefangen von den exakten Schattierungen des farbigen Glases bis hin zu der unterschiedlichen Dicke des Metalls, aus denen die Träger bestanden und die verschiedene tonale Schwingungen erzeugten, wenn das Rad über sie rollte -, eine Harmonie von Licht und Ton ausdrückten, die die alte Macht der Schwingungen auslöste. Diese Magie war von der Erschaffung der Welt übrig geblieben und existierte noch in jedem Lebewesen.
Doch sie begriffen nicht die Einzelheiten dessen, was sie da beobachteten. Sie wussten nur, dass Omet, der noch vor einem Augenblick eher tot als lebendig gewesen war, nun in dem rosigen Licht lag, das aus dem Himmel eingefangen worden war, und sich im Einklang mit Farbe und Schwingung befand. Er atmete im Takt mit der Musik, als ob sie ihn erfüllt habe, und richtete Herzschlag, Atmung und alle Schwingungen seines tiefsten Selbst nach ihr aus. Und das machte ihn wieder gesund. Shaene verlor die Fassung. Er beugte sich über den jungen Mann, noch gefangen in den Klauen der Angst, die nun langsam zu Erleichterung wurde, und weinte. Er spürte, wie Rhur ihm die Schulter von hinten drückte, und drehte sich um. Es war das erste Mal, dass Shaene den herben Bolg lächeln sah. Gebannt hörten sie zu, wie das langsam sich bewegende Rad weitersummte. Der Ton wurde umso tiefer, je langsamer es sich drehte. Das rote Licht nahm ab und wich einem leuchtenderen, dunkleren Orange.
Als das heilende rote Licht von Omets Gesicht glitt, sahen sie, dass seine Haut wieder normal war und eine natürliche, gesunde Farbe angenommen hatte. Die Augenlider zuckten und der Kopf bewegte sich hin und her, als wolle Omet den Schlaf abschütteln.
Entzückt lauschten die Männer, als sich der Ton gleichzeitig mit der Bewegung über die Führungsschienen veränderte. Nun wandelte sich das Licht vollständig vom Rot der ersten Abteilung in der Kuppeldecke zur Farbe der nächsten Scheibe: orange. Frith-re. Feuerleger. Shaene holte tief Luft, als es in dem Raum plötzlich warm wurde. Er schaute zu dem Regenbogen aus Glas über ihm, in dem nur das violette Endstück fehlte, und in den klaren Himmel dahinter. »Es verspricht ein wunderbarer Tag zu werden«, sagte er zu Rhur.
Das waren die letzten Worte, die in dem Raum zu hören waren, bevor die ganze Welt explodierte. Als er sich davon überzeugt hatte, dass das Erdenkind ungestört schlummerte, versiegelte Grunthor den Tunnel und eilte zurück in den Kessel und zum Gurgus.
Drei Korridore davor wurde ihm der Weg versperrt.
Überall unter dem Berg waren die Tunnel zusammengebrochen und hatten die Durchgänge in unpassierbare Wände aus Schutt und Schiefer verwandelt. Bolg-Soldaten eilten durch die angrenzenden Tunnel und evakuierten die Räume, die nicht eingestürzt waren. Sie trugen die Verletzten und Toten hinaus und husteten heftig in der alles durchdringenden Staubwolke.
»Criton!«, flüsterte Grunthor und starrte auf die Verwüstung. »Was ist passiert?«
Niemand antwortete ihm.
Verzweifelt rannte Grunthor zu der dichten Geröllmauer, die den obersten Korridor abschloss. Er konzentrierte sich, griff tief in sich hinein, berührte das elementare Band, das ihn an die Erde fesselte, und ließ die Kraft durch seine Hände in den geborstenen Stein um ihn herum fließen. Er rief alle Erdenmacht zusammen und trieb einen Tunnel durch die Mauer aus Schutt. Schiefer und Fels glitten von ihm fort, als schmölzen sie bei seiner Berührung. Er grub sich tiefer ein, drückte seinen Körper hindurch und machte sich einen eigenen Tunnel.
In all dem Durcheinander erkannte er Leichen. Am äußeren Ende der Verwüstung hatten sich hingegen keine befunden. Zwei fand er tief im Gesteinsschutt begraben und erkannte sie als Shaene und Rhur, die unter Tonnen geborstenen Schiefers und gewaltiger Basaltstücke, den Überresten des Gurgus-Gipfels, zerschmettert lagen.
»O nein!«, murmelte er, als er Shaene fand, der aufrecht zusammengedrückt worden war. »Verdammt.«
Er bahnte sich weiter einen Weg durch die Bruchstücke des Berggipfels, bis er endlich zu einer Öffnung hinter dem Schuttwall durchgebrochen war. Seine Augen stachen vom Staub, der sich auch in Kehle und Nase sammelte.
Dort, auf dem Boden des Turms, lag in einem glitzernden Regenbogen aus farbigem Glas Omet. Er hatte die Augen geschlossen und war mit Blut besprenkelt, das von dem Glasregen herrührte, doch ansonsten schien er unverletzt zu sein. Als Grunthor den großen Haufen aus Glasscherben betrachtete, war er verblüfft, dass der junge Mann nicht in Streifen geschnitten worden war. Grunthor kroch vorsichtig über die Splitter, die alles waren, was von der wunderbaren Kuppeldecke übrig geblieben war, schritt an den Arbeitstischen vorbei, hob Omet aus dem Glashaufen und legte ihn sich über die Schulter.
Omet jammerte, als sein Oberkörper an Grunthors Rücken herabhing.
»Grunthor?«, flüsterte er. Sein langes, glattes Haar fiel bis auf den Boden. Der Sergeant drehte sich um und machte sich durch das Geröll auf den Rückweg.
»Was?«
Omet bemühte sich, deutlich zu sprechen, obwohl er wie verrückt hin und her schwang und mit dem Kopf nach unten hing.
»Theophila ist ... in Wirklichkeit ... die Gildenmeisterin der ... Mörder- und Diebesgilde von... Yarim.«
»Da bin ich dir ’nen Schritt voraus«, erwiderte Grunthor und bückte sich, damit Omets Rücken nicht über die niedrige Decke schrammte.
Der junge Handwerker machte eine wilde Handbewegung.
»Rhur und Shaene sind auch hier irgendwo, glaube ich. Ich habe sie reden hören, kurz bevor ...«
Grunthor tätschelte Omets Steiß. Sein Gesicht zeigte keine besondere Regung, aber seine Blicke schössen wild umher.
»Psst jetzt«, sagte er streng. »Hast noch genug Zeit zum Reden, wenn ich dich hier rausgebracht hab und du dich hast ausruhen können.«
Acht Tage später erhielt der Verwalter der Rabengilde ein Päckchen durch die Postkarawane aus Ylorc.
Dranth brach die Siegel auf und entfernte vorsichtig das Pergament, in das es eingepackt war. Bisher hatte Esten nur unzerbrechliche Dinge und Papiere geschickt, doch er wollte nicht das Risiko eingehen, den Inhalt zu beschädigen. Dem Gestank nach zu urteilen, der aus dem Päckchen drang, hatte es wahrscheinlich bereits durch die Hitze in den Postwagen Schaden genommen. Als er das letzte Stück Verpackung abgenommen hatte, trat Dranth, der Gildenverwalter des seelenlosesten, tödlichsten Zirkels von Dieben und Mördern in Roland, einen Schritt zurück von dem Tisch, legte die Hand über den Mund und erbrach sich dann auf den Boden der Güdenhalle. Grunthor hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Estens schwärende Augen zu schließen, bevor er sie zu ihrer Gilde zurückgeschickt hatte.
Epilog
Das Verknüpfen der Fäden
Die Welle aus der Explosion unter dem Meer schleuderte den Kirsdarkenvar und die beiden, die an ihm hingen, auf den schwarzen, unnachgiebigen Sand des felsigen Strandes.
Читать дальше