Grunthor räusperte sich unbeholfen.
»Noch mal Entschuldigung«, murmelte er, und als er in ihrem Blick weder Wut noch das Verlangen nach Vergeltung bemerkte, grinste er breit. »Seine Majestät hat mich gebeten, sicherzustellen, dass Ihr alles habt, was Ihr braucht. Wie wär’s, wenn wir in die Messe gehen und was futtern? Da können wir uns besser kennen lernen.« Er deutete in den Versorgungstunnel, hinter dem der Speisesaal der Soldaten lag.
Dafür erhielt er ein strahlendes Lächeln.
»Das wäre schön«, sagte sie nur und ging ihm entgegen, als er sich in Richtung des Versorgungstunnels wandte. Sie verbarg die Klinge in ihrer Handfläche.
Vollkommen, dachte sie. So ein großes Ziel, und ich kann einen sauberen Schuss abgeben.
Sie wurde ein ganz klein wenig schneller, hielt die Klinge mit der Spitze nach unten und hob sie, während sie allmählich in Schussweite kam. Sie beobachtete die Bewegungen seines weichen Lederwamses über dem verwundbaren Rücken.
Ihre Augen verengten sich leicht, als sie sich konzentrierte und auf die zuckenden Muskeln in seinem Rücken zielte.
Sie regten sich stärker, als sie erwartet hatte. Plötzlich wirbelte Grunthor herum und hielt ein großes Schwert in der Hand, das sie ihn nicht ziehen gesehen hatte. Mit einer fließenden, anmutigen Bewegung trennte er damit ihren Kopf säuberlich von den Schultern.
Er war schneller gewesen, als jemand von solcher Größe sich je bewegen konnte. Estens dunklen, leuchtenden Augen blieb gerade noch genug Zeit, sich in Entsetzen weit zu öffnen, bevor ihr Kopf von den Schultern sackte. Ihr Körper fiel nach vorn auf den Boden, während der Kopf sich überschlug und die schwarzen Wände mit spritzendem Blut benetzte. Schließlich landete er knapp hinter der Tür des Bolg-Königs.
Der Sergeant-Major hockte sich neben den Leichnam. Er rollte ihn auf den Rücken; dabei fiel die Klinge aus den leblosen Fingern. Grunthor hob sie auf und schüttelte den Kopf. Er gluckste vor gespielter Missbilligung.
»Lektion eins«, stimmte er mit seiner Ausbilderstimme an, »bemüh dich im Kampf Mann gegen Mann immer um Abstand.« Er hielt die kleine Klinge neben sein Schwert. »Was immer man dir auch sagt, die Größe spielt doch eine Rolle.«
Er durchsuchte rasch den Rumpf und entdeckte mehrere Phiolen und seltsame Münzen sowie verborgen in der Innentasche ihres Hemdes den Schlüssel, der einmal eine Rippe des Erdenkindes gewesen war. Die Belustigung auf seinem Gesicht versickerte. Er stand auf und ging den Gang hinunter zu der Stelle, wo der Kopf lag.
Er hob ihn an den Haaren auf und blickte in die weit geöffneten Augen.
»Tut mir Leid, Mädchen, aber ich hab gewusst, dass du nicht sein Typ bist«, sagte er ernst. »Seine Majestät bevorzugt Frauen, die in der Krise den Kopf aufrecht tragen können.« Und nur eine zur gleichen Zeit, dachte er. Der König hätte das Schlafende Kind niemals mit dir betrogen, Kleines.
Als der abgetrennte Kopf zur Seite rutschte, fielen zwei silberne Nadeln aus dem schlaffen Mund. Grunthor schüttelte sich in gespieltem Abscheu.
»Au weia, du wärst ’ne richtige Freude gewesen, wenn du den Laufpass bekommen hättest, was? Mein Schwanz zittert, wenn ich nur dran denke.«
Er lief zurück zu Estens Rumpf und ließ den Kopf darauf fallen, dann rief er die Wachen, die in dem Gang ihren Dienst versahen.
»Wickelt dieses Ding in einen Mantel und bringt es in die Waffenkammer«, befahl er. »Seid vorsichtig; sie ist ’ne richtige Schatzkammer an verborgenen Sächelchen, von denen einige euch töten könnten. Fasst sie nur am Mantel an. Und holt vier neue Wachen.«
Er wartete, bis die Soldaten den Körper entfernt hatten, bevor er die Tür zu den Privatgemächern des Königs öffnete.
Boden und Wände um ihn erbebten unter dem Widerhall einer gewaltigen Explosion. Instinktiv warf Grunthor die Arme hoch und schützte seinen Kopf, als Schutt und Sand auf ihn herabregneten. Er wandte sich ruckartig in die Richtung des Lärms und drehte sich dann wieder zur Tür um.
Angesichts der schrecklichen Wahl, entweder im Loritorium oder im Kessel zu helfen, zog er die Geheimtür auf und hastete hinunter in die Kaverne des Schlafenden Kindes.
Nachdem sie Omet auf den Boden gelegt hatten, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis Rhur und Shaene das Rad fanden, das sie damals in der Kammer getestet hatten, in der es immer noch stand – unberührt, in Öltuch eingewickelt und gegen die Hinterwand gelehnt.
Es dauerte ein wenig länger, es einzusetzen. Beim letzten Mal hatte Omet beim Tragen und Aufhängen geholfen; eigentlich war er damals die maßgebliche Person gewesen. Zwei Paar Hände für das große Artefakt aus Stahl und Kristall waren entschieden schlechter für diese Aufgabe geeignet als drei, doch die beiden Glasbläser waren beharrlich, und nach einigen angstvollen Momenten und fehlgeschlagenen Versuchen gelang es ihnen endlich, das Ding in die richtige Stellung zu bringen, so wie damals, als sie es zu dritt ausprobiert hatten.
Shaene kniete über Omet, während Rhur unablässig die hölzerne Kuppel über ihnen beobachtete.
»Omet«, sagte er sanft. Seine Stimme klang ungewöhnlich sicher und weise. »Halte noch ein bisschen länger durch. Bald wird die Kuppel entfernt und die Sonne durch die Wolken brechen. Das farbige Glas, bei dessen Herstellung du geholfen hast, wird vom Boden widergespiegelt werden. Stell dir vor, wie stolz du dann sein wirst.«
Omets Gesicht war noch immer grau. Er atmete flach und starrte zur Decke.
Die zwei Männer, Kunsthandwerker beide, der eine ein Bolg, der andere ein Mensch, Freunde des jungen Mannes, der sterbend auf dem Boden lag, warteten besorgt und sahen zu, wie bei jedem Atemzug ein wenig mehr Leben aus ihm herausfloss.
Schließlich ertönten kratzende und polternde Geräusche. Die Männer schauten hoch und sahen, dass die hölzerne Bedeckung von einer Gruppe Handwerker, die sich auf den Felsen vor dem Turm befand, langsam fortgezogen wurde.
Das Fundament des Turms, das noch ein Durcheinander von Töpfen, Werkzeugen, Holzbalken und behelfsmäßigen Werkbänken war, erglänzte in dem Licht des frühen Morgens. Der Tag brach an, der Sturm war vorüber, doch es dauerte noch einige Momente, bis die steigende Sonne den Horizont ganz überstrahlte.
Shaene fuhr damit fort, Worte der Ermunterung zu flüstern. Seine Stimme wurde fester und Omet immer bleicher.
Ein Glimmern, das sich zu rosigem Gleißen verstärkte ... Die beiden Kunsthandwerker sahen, wie der Himmel hinter dem zu sieben Achteln vervollständigten Kreis aus wundervoll gefärbtem Glas zu einem reinen, wolkenlosen Blau aufklarte.
Während Shaene dem Schauspiel gebannt zusah, ging Rhur zu dem Kühlregal, in dem eine letzte Experimentierscheibe aus violettem Glas lag, die auf ihre Probe wartete. Er durchsuchte die Haufen auf der Werkbank, bis er die violette Vergleichsscheibe fand. In der Zwischenzeit strich Shaene Omet nutzlos über das Gesicht.
Als Rhur zu der Stelle zurückging, wo der junge Mann lag, hörte er, wie Shaene laut rasselnd die Luft einsog, und schaute hinunter.
Auf dem stumpfen grauen Steinboden des Turms lag ein wunderbarer, vielfarbiger und schimmernder Keil. Die reichen Schattierungen wirkten wie dahinschwindende Teiche aus flüssigen Edelsteinen, wertvolle Juwelen in geschmolzener Form, die das matte Grau Ylorcs mit dem flüchtigen Glanz unübertrefflicher Schönheit überzogen.
Shaene starrte mit offenem Mund nach oben. Rhur hielt die Testscheibe gegen das Licht. In der Tiefe sah er Runen – Symbole, die er nicht verstand.
Grei-ti, violett. Der Neubeginn.
Shaene kam taumelnd auf die Beine und deutete auf das Rad.
»Los, Rhur! Hilf mir, es in Gang zu setzen!«
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