Bernecs Gesicht zuckte. Speichel rann aus seinen Mundwinkeln und tropfte an seinem Kinn herab. »Warum?« würgte er. »Warum . . . habt . . . Ihr.. . das . . . getan?«
»Weil es die einzige Möglichkeit war, unser Volk zu retten«, fuhr Seshar leise fort.
»Das Volk von Urc hat sich niemals von jener Schlacht erholt, und unsere Vorfahren waren Gefangene der Wüste geworden. Es gab nur diese eine große Lüge, um ihnen die Kraft zum Weiterleben zu geben. Wir tilgten jede Erinnerung an unsere wirkliche Vergangenheit und erzählten unseren Kindern jene Geschichte, die ihr kennt und mit der ihr aufgewachsen seid. Es waren die ersten Könige von Cearn, die die Legende des verlorenen Paradieses schufen, und seither wird dieses Geheimnis von Generation zu Generation weitergegeben. Nur die Könige wissen es, Bernec, und es darf nie, nie gelüftet werden.«
Bernec wimmerte. »Hör auf«, bat er. »Bitte, hör auf. Sag, daß das alles nicht wahr ist! Sag es!«
Aber Seshar schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß, was jetzt ii. dir vorgeht«, sagte er sanft. »Auch ich habe einmal so wie du biergestanden, und auch ich habe meinen Vater angeschrien und gehaßt. Die Krone von Ipcearn ist schwer, Bernec, vielleicht schwerer als irgendeine andere Königskrone auf der Welt. Du wirst noch spüren, was es bedeutet, ein Leben lang mit einer Lüge leben zu müssen, sein Volk mit jeder Silbe, jedem Augenblick des Tages und der Nacht belügen und täuschen zu müssen. Wir werden nach Cearn zurückkehren, du, Coar und ich, und dann wirst du diese Last für mich tragen.«
Bernec wollte auffahren, aber Seshar sprach schnell und hastig weiter. »Ich kann dir nicht mehr helfen, Bernec. Es ist zuviel geschehen, als daß es einen anderen Weg gäbe. Wir werden zurückkehren, und du und Coar werdet den Thron von Ipcearn besteigen und mein Werk fortsetzen. Ich beneide euch nicht um diese Aufgabe.« Er brach ab, und für Sekunden senkte sich eine tiefe, beinahe tödliche Stille über den winzigen Balkon.
»Del und Skar«, fuhr er nach einer Ewigkeit fort. »Ihr werdet hierbleiben müssen. Es gibt keinen anderen Weg.«
Skar nickte. Die Bewegung kostete ihn ungeheure Überwindung. »Ich weiß«, antwortete er. »Ich wußte es, als ich die Pferde und die Lebensmittel sah. Sie sind für uns, nicht?«
Seshar nickte. »Ihr werdet Wasser und fruchtbares Land finden, wenn ihr an der Küste nach Norden zieht. Es ist weit, aber ich weiß, daß ihr es schaffen könnt. Es . . . es tut mir leid.«
»Mir auch, Seshar«, murmelte Skar. »Mir auch.«
Er wandte sich um, trat an die Balkonbrüstung und starrte auf die Ebene hinab. Der Anblick der Festung schreckte ihn seltsamerweise kaum noch.
Irgendwann wandten sich Seshar, Bernec und Coar um und verschwanden ohne ein Wort des Abschiedes im Inneren des Turmes, und Del und er blieben allein zurück.
Der Wind wurde kälter.
Und irgendwann später, als die Sonne untergegangen war und die Nacht ihre schwarzen Fühler über das Land ausstreckte, trat Del neben ihn und sagte etwas, das er niemals wieder vergessen sollte.
»Bei allen Göttern, Skar – was haben wir getan?«
Skar antwortete nicht. Nur tief, tief in sich glaubte er das leise Lachen seines dunklen Bruders zu hören.