Trotzdem schien es Skar, als wären Stunden vergangen, ehe die Dunkelheit endlich wich und vor ihnen der rötliche, flackernde Schein brennender Teerfackeln auftauchte.
»Wir sind da«, sagte Seshar. Er hielt an, stieg aus dem Sattel und führte sein Pferd die letzten Meter am Zügel. Skar sah jetzt, daß sie die ganze Zeit durch einen hohen, gewölbten Tunnel geritten waren. Der Boden war sonderbar eben und wirkte an vielen Stellen wie poliert, und entlang der Wände waren . . . seltsame Dinge. Der trübe Schein der Fackeln reichte nicht weit genug in den Stollen hinein, um Einzelheiten erkennen zu können, aber es schien ihm, als entzöge sich das, was immer dort an den Felswänden war, auf geheimnisvolle Weise seinen Blicken. Es war jedenfalls kein Stein. Nichts, was er kannte.
Er wandte sich schaudernd ab und beeilte sich, hinter Seshar und Del den Tunnel zu verlassen. Vielleicht war es manchmal besser, nicht alles zu wissen. Vor ihnen lag der Fluß. Das Licht reichte nicht aus, um sein gegenüberliegendes Ufer erkennen zu können, aber er mußte gewaltig sein. Der Fels unter seinen Füßen bebte, und das Wasser schoß mit so ungeheurer Geschwindigkeit vorüber, daß Skar keine einzelnen Wellen ausmachen konnte, sondern nur eine fließende, glitzernde Masse: Ein formloses schwarzes Ding schoß vorüber und verschwand in der Dunkelheit, ehe er erkennen konnte, was es war.
Del berührte ihn an der Schulter und deutete auf das Floß, das wenige Schritte flußabwärts auf dem Wasser schaukelte. »Dieser Irre glaubt doch wohl nicht, daß ich nur einen Fuß auf dieses Ding setze!« brüllte er über das Tosen der Wellen hinweg.
»Du wirst es müssen!« schrie Skar zurück. »Ich glaube kaum, daß du den Rückweg allein finden würdest!« Aber ihm war selbst nicht sehr wohl bei dem Gedanken, sich dem Fluß anzuvertrauen. Das Floß sah stabil aus – ein mehr als zehn Meter langes Rechteck aus drei Lagen sorgfältig übereinandergeschichteter Baumstämme
-, aber die gewaltige Strömung würde es trotzdem wie ein Spielzeug hin und her werfen und am geringsten Hindernis zerbersten lassen. Er überlegte einen Moment, wie es Seshar wohl gelungen sein mochte, das Fahrzeug hier herunterzubringen, und schob den Gedanken dann mit einem Achselzucken beiseite. Nach allen Rätseln und Geheimnissen, auf die sie bisher gestoßen waren, interessierte ihn diese Frage kaum noch.
Er warf Del einen aufmunternden Blick zu und ging mit raschen Schritten auf das Floß zu. Das Heck des Fahrzeuges war mit Kisten und bauchigen, hölzernen Fässern beladen, die sorgsam mit Stricken und ledernen Riemen vertäut waren, und als er näher kam, erkannte er eine Anzahl schwerer Eisenringe, die offensichtlich zum Befestigen weiteren Frachgutes dienten.
Er blieb stehen und sah sich neugierig um. Das Floß lag in einer winzigen Bucht, so daß es nicht von der vollen Wucht der Strömung getroffen werden konnte. An der Wand neben ihm hingen zwei eiserne Fackelständer. Der Fels darüber war schwarz von Ruß. Offensichtlich wurde die Stelle nicht das erstemal als natürlicher Hafen benutzt. Der Stein zu seinen Füßen hatte einen schleimigen, leicht klebrigen Überzug.
Seshar hatte mittlerweile zusammen mit seinem Pferd das Floß betreten und wartete nun voll sichtlicher Ungeduld, daß sie ihm folgten. Er winkte und sagte irgend etwas, aber seine Worte gingen im Toben und Brüllen des Flusses unter. Skar hob resignierend die Schultern und trat neben ihm auf das Floß. Er fror plötzlich.
Die Strömung trug sie in phantastischer Geschwindigkeit nach Westen. Skar wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit sie die Haltetaue gelöst und sich dem Fluß anvertraut hatten, aber es mußten Stunden sein. Die beiden Fackeln, die sie mitgenommen hatten, waren schon nach kurzem erloschen, und das gewaltige Dröhnen und Brausen des Flusses machte jede Unterhaltung von vornherein unmöglich. Sie hatten die Pferde und sich selbst an den eisernen Ringen, die in die Stämme des Floßes genagelt worden waren, festgebunden, um nicht abgeworfen und in den Fluß geschleudert zu werden, aber die Fahrt verlief ruhiger, als Skar angenommen hatte. Das Floß schien kaum ins Wasser einzutauchen, sondern wie ein flach geworfener Stein über die Oberfläche des Flusses zu schießen. Nach einer Weile nahm die Geschwindigkeit der Strömung merklich ab, und Skar vermutete, daß der unterirdische Fluß hier breiter oder tiefer wurde. Er setzte sich vorsichtig auf, lockerte den Strick um seine Hüfte ein wenig und versuchte, in der pechschwarzen Finsternis vor ihnen irgend etwas zu sehen. Irgendwo, sehr weit vor ihnen, schien ein trüber grauer Fleck in der Dunkelheit zu schwimmen. Er blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte noch einmal. Aber er konnte trotzdem nicht mehr erkennen. Seine Augen schmerzten, und sein Herz begann plötzlich und völlig grundlos rasend schnell zu hämmern. Er tastete, von einer plötzlichen, sinnlosen Angst erfüllt, um sich und berührte eine Hand. Eine schmale, zartgliedrige Hand, sanfte Finger, benetzt mit eisiger Feuchtigkeit und trotzdem auf sonderbare Weise warm und beschützend. Coars Hand. Die Berührung hatte etwas ungemein Beruhigendes. Er drückte sie, kurz und so fest, daß es sie schmerzen mußte, und ließ sich dann wieder zurücksinken. Seine Furcht war verschwunden. Die kurze, flüchtige Berührung hatte gereicht, seine Angst zu vertreiben und ihn im Gegenteil mit einer tiefen, wohltuenden Ruhe zu erfüllen. Was immer auch geschehen mochte, wohin immer dieser Fluß und Seshar sie bringen würden – er wußte plötzlich, daß es sich gelohnt hatte; wenigstens für ihn.
Der graue Schimmer vor ihnen wurde allmählich zu einem verwaschenen Kreis, und ein neues Geräusch mischte sich in das Dröhnen des Flusses: ein tiefes, grollendes Donnern, ein Laut wie von einem mächtigen, weit entfernten Wasserfall. Die Strömung nahm weiter ab, und das Floß wurde langsamer, begann aber gleichzeitig zu bocken und zu schütteln. Skar setzte sich wieder auf und griff haltsuchend nach dem eisernen Ring neben seiner Hüfte. Ein kurzer, heftiger Schlag ließ das Floß erbeben. Eine eisige Welle spülte über seinen Rand und durchnäßte Skar. Das Floß zitterte, legte sich in eine unsichtbare Kurve und kam mit einem berstenden Schlag in die Waagerechte zurück. Die Pferde begannen unruhig zu werden und zu stampfen. Jemand schrie.
Skar klammerte sich verzweifelt fest und wartete darauf, daß das Schütteln und Beben aufhörte, aber es wurde im Gegenteil noch schlimmer. Das Licht vor ihnen begann wie irr auf und ab zu hüpfen, und Welle auf Welle überspülte das Deck, durchtränkte ihn mit eisiger, klammer Nässe und ließ ihn keuchend nach Atem ringen. Eines der Pferde riß sich los, stieg, kreischend vor Panik, auf die Hinterläufe und stürzte in den Fluß. Die Strömung drückte es in Sekundenschnelle unter die Wasseroberfläche und riß es davon. Skar bäumte sich auf. Ein schmerzhafter Schlag traf seinen Rücken und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er schrie, schluckte Wasser und griff in sinnloser Panik um sich. Seine Hände scharrten verzweifelt über die rauhen Balken, versuchten sich festzuklammern und glitten ab. Seine Fingernägel brachen. Ein ganzer Hagel dumpfer, dröhnender Schläge traf das Floß und ließ es in seinen Grundfesten erbeben.
Und dann war es vorbei.
Das Floß erzitterte unter einem letzten, fürchterlichen Aufprall, schoß in die Flußmitte hinaus und kam dann schaukelnd zur Ruhe.
Skar blieb sekundenlang auf dem Rücken liegen und schnappte verzweifelt nach Luft. Sein Schädel dröhnte, als würde hinter seiner Stirn ununterbrochen ein gigantischer Gong anschlagen, und jeder einzelne Schlag seines Herzens schickte einen schmerzhaften Stich durch seinen Leib. Neben ihm stöhnte jemand, aber das Geräusch schien nur wie durch eine dichte, dämpfende Nebelwand an sein Bewußtsein zu dringen.
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