»Das ist . . . «, sagte er.
»Urcöun«, bestätigte Seshar so leise, daß Coar und Bernec, die weiter vorne auf dem Floß hockten, das Wort nicht hören konnten. »Wir sind direkt darunter. Weiter unten gibt es eine Stelle, an der wir das Floß anlegen und entladen können. Es dauert nicht mehr lange.«
Skar sah sich mit neu erwachtem Interesse um. Ein seltsames, widersinniges Gefühl der Ehrfurcht beschlich ihn. Er glaubte plötzlich zu spüren, wie alt, wie unglaublich, unvorstellbar alt diese Anlage war. Die Wände und die gewölbte Decke hoch über ihren Köpfen atmeten Alter und Erhabenheit aus, aber auch noch etwas anderes – ein dumpfes, schwer zu beschreibendes Gefühl des Fremden, Abweisenden.
Urcöun . . . Zum ersten Mal, seit er das Wort gehört hatte, glaubte er den fremden, drohenden Unterton darin wahrzunehmen, einen Klang, der wispernde Geschichten von uralten Völkern und dunklen Riten zu erzählen schien, etwas Kaltes und Böses. Einen Klang, der so wenig zu diesem freundlichen, lebensfrohen Volk paßte wie die Hoger und die tödlichen Weiten der Nonakesh. Er wollte etwas sagen, aber mit einemmal erschien ihm der Klang einer menschlichen Stimme in dieser Umgebung falsch und unangebracht, vielleicht sogar gefährlich, so daß er es bei einem stummen Achselzucken bewenden ließ. Und auch die anderen schienen das gleiche zu spüren. Del war seltsam still geworden, und Coar und Bernec kauerten stumm und wie schutzsuchend aneinandergepreßt am Bug des Floßes. Selbst die Tiere hatten aufgehört, nervös an ihren Stricken zu zerren, sondern standen in verkrampfter, angespannter Haltung da, die Köpfe gesenkt und die Ohren ängstlich an den Schädel gelegt. Nach einer Weile stand Seshar auf und deutete auf eine halbrunde, gemauerte Bucht an der rechten Seite des Kanals. .Del nickte und griff ein letztes Mal zum Ruder. Das Floß schwenkte herum, glitt nahezu lautlos an die niedrige Kaimauer heran und kam mit einem knirschenden Geräusch zur Ruhe.
»Vertäut das Floß«, sagte Seshar mühsam. »Und dann kommt. Wir holen die Pferde und die Lebensmittel später nach. Dort vorne ist die Treppe.«
Die Stufen waren zu hoch und zu schmal gewesen und einem Körperbau angemessen, der nicht menschlich war.
Das war die erste Warnung.
Es folgten Räume und schräge, scheinbar sinnlos zueinander angeordnete Ebenen, Rampen und Stollen, die nach einer vollkommen fremden, nichtmenschlichen Geometrie errichtet worden waren. Selbst das Licht schien anders; fremd und umheimlich - krank . Das Gebäude war erfüllt von tanzenden Schatten und grauen, flackernden Bereichen voller gestaltloser Angst, und ihr Weg nach oben wurde zu einer Wanderung über einen dünnen, unsichtbaren Grat, hinter dem Terror und Wahnsinn lauerten.
Und trotzdem, obwohl jeder einzelne von ihnen wußte, was sie erwarten würde, obwohl ihnen jeder Schritt, jeder Fußbreit Boden, über den sie gegangen waren, die Wahrheit ins Gesicht geschrien hatte, traf sie der Anblick mit ungeheurer Wucht. Keiner von ihnen war fähig, etwas zu sagen oder auch nur einen Schreckenslaut von sich zu geben. Das, was vor ihnen lag, schien sich jenseits aller Schrecken zu befinden, ein Teil einer Welt, die die Grenzen ihres Begriffsvermögens sprengte und nichts als Leere und tödliches, endgültiges Schweigen zurückließ.
Sie standen auf einer runden, auf unmögliche Weise in sich selbst gekrümmten Plattform hoch über der braunen Ebene und starrten auf die Küste und das dahinterliegende Meer hinunter. Vor ihnen, nicht mehr als eine Meile entfernt, lag Urcöun.
Skar fror. Der Wind war warm, und die Sonne brannte trotz der vorgerückten Stunde noch immer unbarmherzig vom Himmel, aber in ihm war nichts als Kälte, ein Gefühl, als wäre irgend etwas in ihm gestorben, stürbe noch, weil die Welt, in die sie vorgedrungen waren, menschliches Leben nicht erlaubte.
Urcöun war ein Koloß, ein gigantischer, schwarzbrauner Leviathan, vor Urzeiten aus den tiefsten Sümpfen einer dämonischen Welt ans Ufer gekrochen und zu bizarrer Scheußlichkeit erstarrt.
Skar versuchte vergeblich, die Form des ungeheuerlichen, mehr als eine Meile hohen . . . Dinges zu bestimmen. Es war schwarz. Schwarz und böse und abweisend, besudelt mit pockennarbigen braunen Flecken und warzigen Vorsprüngen, großen, schwärenden Wunden, Linien, die in ihren Augen schmerzten, und gestaltgewordener Angst. Skar versuchte sich einzureden, daß dieses Gebäude nicht wirklich häßlich war, nur fremd, unsagbar fremd, so anders und verschieden von ihrer eigenen Welt, daß sein Geist nur mit Abscheu und Furcht darauf reagieren konnte. Aber der Gedanke nutzte gar nichts. Plötzlich hatte er das Bedürfnis zu schreien, aber es ging nicht. Sein Blick löste sich mühsam von der schweigenden Scheußlichkeit Urcöuns, glitt über die braune, verbrannte Ebene zu seinen Füßen, tastete über kahlen Fels und glasige Schlacke und irrte schließlich zur Küste und in die Weite des Meeres hinaus, unfähig, das schreckliche Bild noch länger zu ertragen.
»Oh, mein Gott«, stöhnte Coar neben ihm. Die Worte schienen weit über die Ebene zu hallen und als drohendes, boshaft verzerrtes Echo zurückzukehren; Lästerung, Häresie der dunklen Götter dieser Welt. Menschliche Stimmen hatten hier nichts verloren.
»Ich habe euch gewarnt«, murmelte Seshar. »Ich sagte euch, daß euch die Wahrheit nicht gefallen wird.«
»Aber warum . . .?« keuchte Bernec. »Was . . .?«
Skar wandte sich mühsam um, schloß die Augen und ballte die Fäuste so heftig, daß seine Fingernägel tief in die Haut schnitten. Der Schmerz schien ihm fast wohltuend, willkommen, ein Freund, der ein Stück seiner eigenen Welt darstellte und ihm half, dem Wahnsinn wenigstens noch für eine kurze Weile standzuhalten.
»Urcöun war niemals unsere Heimat«, sagte Seshar. Seine Stimme klang monoton und flach, als spräche er in Trance. »Die alten Legenden sind unwahr. Sie sind unwahr, wie die Geschichte von Urc und seiner blühenden Zivilisation unwahr ist.«
»Aber warum?« wimmerte Bernec.
»Weil wir die Angreifer waren«, antwortete Seshar. »Urcöun ist die Heimat eines uralten Volkes, das vor Millionen von Jahren von den Sternen kam und sich hier ansiedelte. Sie waren mächtig, mächtig und reich, und ich glaube nicht einmal, daß sie wirklich böse waren. Sie waren nur fremd. So fremd, daß eine Verständigung zwischen ihnen und den Menschen unmöglich schien und sie sich schließlich hier am Ende der Welt verbargen. Aber ihr Reichtum und ihre Macht lockten Neider an. In diesem Punkt sind die Legenden wahr, Bernec. Das Volk von Urc lebte lange und unbehelligt, und es war reich und glücklich und zufrieden, soweit ein Volk in einer Welt, die nicht die seine ist, glücklich sein kann. Bis eines Tages eine Flotte von Schiffen vor seiner Küste erschien, Schiffe, die mit Tausenden und Abertausenden von Kriegern besetzt waren. Sie verwüsteten und zerstörten das Land, töteten seine Bewohner und plünderten seine Schätze. Nur diese Festung hielt ihrem Ansturm stand. Sie belagerten sie, und als sich die Vorräte in ihrem Inneren dem Ende zuneigten und seine Bewohner immer verzweifelter wurden, wagten sie einen letzten selbstmörderischen Ausfall. Die Angreifer wurden in einer blutigen Schlacht geschlagen und tief in die Wüste zurückgetrieben. Es waren unsere Vorfahren, Bernec.«
Coar begann leise und tonlos zu weinen. Ihre Hände griffen in einer verzweifelten, haltsuchenden Bewegung in die Luft und sanken dann kraftlos herab. Sie schluchzte, sank gegen die Wand und brach langsam in die Knie.
»Das stolze Volk von Urc hat es niemals gegeben«, fuhr Seshar gnadenlos fort.
»Unsere Urväter waren Piraten und Mörder, die hierhergekommen waren, um ein wehrloses Land zu überfallen und seine Bevölkerung in die Sklaverei zu verschleppen. All die Geschichten von unserer großen Vergangenheit, jedes einzelne Wort von Rache und Vergeltung, das wir euch erzählt haben, war gelogen.«
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