»Verräter!« keuchte Bernec. »Du . . . verdammter . . . Verräter. Deshalb also hast du mich überredet, mit dir zu kommen. Aber das wird dir nichts nützen. Ihr könnt mich umbringen, aber dadurch wird alles nur noch schlimmer werden.«
»Du täuschst dich«, sagte Seshar sanft. »Skar hat dich nicht verraten. Er ist mit der gleichen Absicht hierhergekommen wie du.«
»Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich das ein Dutzend Mal und leichter haben können«, bestätigte Skar ungerührt.
Bernec hob trotzig den Kopf. In seinen Augen flatterte ein unstetes, fanatisches Feuer. Seine Hände zuckten. »Dann laß mich«, schnappte er. »Laß mich los, damit ich dieses Ungeheuer töten kann!«
»Du bist sehr rasch mit dem Töten, nicht?« fragte Seshar. »Glaubst du wirklich, dadurch etwas ändern zu können?«
Bernec wollte erneut auffahren. Skar legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte kurz und warnend zu. Bernec stöhnte und sank mit einem wimmernden Laut zurück.
»Laß mich dieses Ungeheuer umbringen!« keuchte er. »Er hat es verdient. Er hat uns belogen, uns und alle anderen.«
Skar schüttelte den Kopf. »Laß ihn reden, Bernec. Vielleicht töte ich ihn hinterher selbst, aber hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat.«
»Lügen!« schrie Bernec. »Er wird uns nur weitere Lügen auftischen. So, wie er uns die ganze Zeit über belogen hat!«
Skars Geduld war nun endgültig erschöpft. Er riß Bernec grob auf die Füße, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und stieß ihn gegen die Wand. Bernec keuchte und hielt sich die brennende Wange. Seine Gesichtshaut begann sich zusehends rot zu färben.
»Laß ihn, Skar«, bat Seshar sanft. »Er hat unrecht, aber er weiß es nicht besser.« Er lächelte, betrachtete Bernec sekundenlang mit einem fast freundschaftlichen Blick und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Du glaubst, ich hasse dich«, begann er. »Du bist hierhergekommen, um mich zu töten, und nun nimmst du an, daß ich dich deswegen umbringen lasse, Bernec. Aber das stimmt nicht. Ich habe es schon einmal zu Skar gesagt, und ich sage es jetzt noch einmal zu dir: Du ähnelst mir mehr, als du glaubst. Viel von der Ungeduld und Wut, die in dir ist, war auch in mir, als ich so alt war wie du. Ich glaube, ich wäre fast ein bißchen enttäuscht gewesen, wenn du nicht versucht hättest, mich zu töten. Nach dem, was du erfahren hast – oder glaubst, erfahren zu haben –, mußt du mich hassen.«
»Warum?« keuchte Bernec. »Warum hast du das getan?
Warum, Seshar? WARUM??!«
Seshar antwortete nicht sofort. Seine Hände verkrampften sich für einen Moment um die Lehnen seines Sessels, als wolle er sie zerbrechen. »Willst du die Antwort wirklich wissen?« fragte er. »Es könnte sein, daß sie dir nicht gefällt.«
Bernec lachte schrill. »Darauf kannst du Gift nehmen, du Ungeheuer!« Er machte einen Schritt in Seshars Richtung und blieb abrupt stehen, als Skar warnend die Hand hob.
»Du bist jung«, murmelte Seshar, »jung und ungeduldig, und du glaubst, deine Ziele nur noch mit Gewalt erreichen zu können. Aber das stimmt nicht. Ich weiß, daß du es im Moment noch nicht begreifst – noch nicht begreifen kannst –, aber irgendwann wirst du einsehen, daß Gewalt niemals zum Ziel führt.« Er schwieg für die Dauer von drei, vier Herzschlägen, und für einen kurzen Moment schienen seine Gedanken weit, weit weg zu sein. »Du hast nach dem Warum gefragt, Bernec, und ich werde dir deine Frage beantworten. Komm mit mir.« Er stand auf, winkte Bernec zu sich heran und ging mit schlurfenden Schritten zu dem Tisch hinüber, auf dem das Modell des Waldes aufgebaut war. Bernec starrte den Miniaturwald mit fragendem Gesichtsausdruck an.
»Darum habe ich es getan«, sagte Seshar. »Du hast mich gefragt, und dies ist die Antwort. Darum. Um all dies zu erhalten. Um die Menschen, die Cearn geschaffen haben, zu behüten und zu beschützen. Ich habe es getan, weil es der einzige Weg war, Cearn am Leben zu erhalten.«
»Am Leben?« krächzte Bernec. »In der Sklaverei, meinst du! Generation um Generation habt ihr getäuscht. Ihr habt ihnen vorgelogen, daß es keinen anderen Weg gibt, nach Urc zu gelangen, und . . .«
»Du meinst den Fluß«, unterbrach ihn Seshar sanft.
Bernec lachte, aber es hörte sich eher wie ein hysterisches Kreischen an. »Erzähl mir jetzt nicht, daß er nicht nach Urc fließt!«
»Nein, gewiß nicht«, antwortete Seshar. »Die alten Legenden stimmen. Der Koth fließt tief unter der Nonakesh hindurch und mündet im Lande Urc. Ihr hättet ihn niemals finden dürfen.«
»Aber wir haben ihn gefunden.« Bernec ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Du kannst mit mir machen, was du willst, Seshar, es ist zu spät. Das Volk von Cearn hat die Wahrheit erfahren.«
»Das habt ihr nicht!« fuhr Seshar, nun doch sichtlich verärgert, auf. »Ihr habt eine Höhle und einen unterirdischen Fluß gefunden, das ist alles. Und was wollt ihr nun mit eurem neu erworbenen Wissen anfangen?« Er schüttelte wütend den Kopf und schlug wuchtig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist zornig, Bernec, zornig und verzweifelt«, fuhr er im gleichen, scharfen Tonfall fort. »Aber das gibt dir nicht das Recht, alles zu zerstören, wofür dein Volk jahrhundertelang gekämpft und gelitten hat.«
Bernec reckte kampflustig das Kinn vor. »Rede ruhig«, sagte er leise. »Das kannst du ja. Reden! Lügen! Ich glaube dir kein Wort mehr, Seshar. Deine Zeit ist abgelaufen. Wir werden Ipcearn stürzen und hinaus in die Wüste gehen und die Höhlen erobern. Und dann werden wir nach Urc gehen. Du kannst uns nicht mehr aufhalten.«
Seshar schüttelte traurig den Kopf. »Nach Urc?« fragte er. »Du willst Urcöun sehen, Bernec? Dann komm – ich zeige es dir.«
Bernec schien für einen Moment sprachlos vor Verblüffung. »Du . . . du willst . . . was?« keuchte er.
»Wenn es wirklich dein Wunsch ist, so bringe ich dich nach Urcöun«, murmelte Seshar tonlos. »Doch ich warne dich noch einmal – es ist nicht immer gut, alles zu wissen.«
»Du bist verrückt!« keuchte Bernec. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, daß ich mit dir gehe und mich dort draußen in der Wüste umbringen lasse!«
Auf Seshars Zügen erschien ein seltsam weicher, verzeihender Ausdruck. Er sah Bernec mit einem undefinierbaren Blick an, trat einen Schritt vom Tisch zurück und klatschte in die Hände.
In den vorher scheinbar fugenlosen Wänden entstanden plötzlich eine Reihe mannshoher, flacher Nischen, und ein Dutzend Soldaten, jeder mit einer schweren, gespannten Armbrust bewaffnet, trat in den Raum.
»Glaubst du wirklich, ich hätte das nötig?« fragte Seshar sanft.
Skar erstarrte. Er stand in Seshars Nähe, und vielleicht wäre es ihm gelungen, mit einem blitzschnellen Satz über den Tisch zu flanken und den alten König als Schutzschild an sich zu reißen –aber wahrscheinlicher war, daß er vorher von einem halben Dutzend Armbrustbolzen durchbohrt würde.
»Steckt eure Waffen weg«, verlangte Seshar ruhig. »Ihr braucht sie nicht.«
Skar blickte verblüfft auf das Schwert in seiner Hand, dann auf die Soldaten.
»Ihr könnt sie behalten«, bestätigte Seshar. »Aber steckt sie weg. Bitte.«
Skar zögerte noch eine halbe Sekunde und schob das Tschekal dann resignierend in die Scheide zurück. Del folgte seinem Beispiel und hob langsam die Hände.
»Du siehst«, fuhr Seshar, an Bernec gewandt, fort, »daß ich es nicht nötig hätte, euch in eine Falle zu locken. Ich will dich nicht töten, Bernec, weder dich noch Coar oder die beiden Satai. Außer, ihr zwingt mich dazu.« Er drehte sich um, gab den Wachen einen Wink. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich brauche euch nicht mehr.«
Die Männer wandten. sich stumm ab und verließen den Raum. Seshar wartete, bis sie allein waren, trat dann um den Tisch herum und legte Bernec die Hand auf die Schulter.
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