Klawdi atmete durch. Der Herzog behielt ihn fest im Blick. Auf dem Grund der tiefen Augen stand Staunen geschrieben.
»Die Hexen folgen ihrer Natur wie niemand sonst. Es sind vierhundert Jahre vergangen. Jetzt ist eine neue Mutterhexe gekommen.«
Klawdi hatte den Eindruck, die letzten Worte wollten sich nicht verziehen, wie es menschlichen Lauten geziemt, sondern blieben aus unerfindlichen Gründen an der Decke hängen. Zusammen mit den Schwaden von Tabakqualm. Genauso musste in einem Gerichtssaal ein überraschend hartes Urteil an der Decke hängen.
Der Herzog schien das ebenfalls zu spüren. Er schwieg. Eine seiner hängenden Wangen zuckte nervös. »Zum Teufel mit diesen Humanisten! Die haben uns das alles eingebrockt! Mit ihrer dämlichen Menschenliebe … besser gesagt mit ihrer dämlichen Hexenliebe!«
»In der Geschichte der Menschheit«, erklärte Klawdi und sah den Herzog dabei eindringlich an, »gab es immer Zeiten und Staaten, die die Null-Variante gepredigt haben, Eure Durchlaucht. Eine Welt ohne Hexen.«
Der Herzog antwortete nicht.
»Sie wissen genau, was das heißt, Eure Durchlaucht. Es würde keineswegs weniger Hexen geben. Dafür würden aber die Null-Länder zu einer Art Kriegsfabrik mutieren. Alles wäre gleichgeschaltet, ein eisernes Regime würde herrschen — und die ständige Angst vor diesem Regime. In der Folge würde noch mehr Blut fließen, es käme zu einer Revolte … Das wissen Sie besser als ich.«
»Und?« Der Herzog senkte die Lider.
»Es hilft nichts, sich vorzuwerfen … zu humanistisch zu sein. Wir haben den einzig möglichen Weg eingeschlagen. Jetzt müssen wir eine Möglichkeit finden, die Mutterhexe auszuschalten.«
»Ist sie in unserem Land?«, hakte der Herzog sofort nach. »Wissen wir das mit Sicherheit?«
»Traditionellerweise stattet sie uns ihren Besuch ab«, meinte Klawdi lachend. »Zum Gedenken an Atryk Ol …«
Wieder lastete das Schweigen auf ihnen. Ein langes, endlos langes Schweigen.
»Starsh, ist Ihnen bekannt, wie Ihr … Vorgänger seinen Triumph erzielt hat?«
Klawdi zögerte. Ja zu sagen hieße zu lügen. Nein zu sagen hieße, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen.
»Vermutlich ist er mit einer silbernen Klinge auf sie losgegangen?«, presste der Herzog hervor. »Mit einer solchen, wie sie da bei Ihnen an der Wand hängt?«
Unwillkürlich hob Klawdi den Kopf. Richtig, rechts von der Tür hing an einem Nagel der silberne Ritualdolch, mit dem die Hexe aus Odnyza den Faden der eigenen Bosheiten gekappt hatte. Im Stadion, während des Konzerts, bei dem sie beinahe ein unfassbares Blutbad angerichtet hätte. »Oder auf den Tribünen werden sich die Toten stapeln.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Klawdi leise. »Es dürfte ihm wohl eher gelungen sein, ihre Nervenzentren aufzuspüren. Und einen zielgenauen Schlag zu landen. Mit Hilfe des archaischen Verstärkerfluchs beispielsweise.«
»Zielgenau«, meinte der Herzog nachdenklich.
»Wie bitte?«
»Ein zielgenauer Schlag. Dieser Verstärkerfluch ist ja schön und gut. Aber seit jener Zeit sind vierhundert Jahre vergangen.«
Eine Unruhe durchzog Klawdi. Die Angst, die in der Seele des Herzogs nistete, hatte nicht abgenommen, ließ sich jetzt jedoch klarer definieren. Und der Herzog schämte sich ihrer nicht. Er blickte an Klawdi vorbei, starrte auf das Geständniszeichen.
»Ich bin nicht panisch, Starsh. Sie sollten meine Worte nicht für das Gejammer eines Kerls nehmen, der in Panik gerät. Wie Sie wissen, bin ich auch der Oberbefehlshaber … Einer modernen Armee stehen wirksamere Mittel zur Verfügung als ein Ritualdolch. Deshalb händige ich Ihnen … Er sieht wie ein Telefonhörer aus. Den Zugang erhalten Sie über Ihren Fingerabdruck in Kombination mit dem Code. Danach müssen Sie nur noch die Koordinaten eingeben. Und die Zeit. Finden Sie Ihre Mutterhexe, und zwar so schnell wie möglich, bevor unsere verzweifelten Nachbarn anfangen, uns mit Bomben zu überziehen. Sehen Sie zu, sich selbst möglichst fern der Schusslinie zu halten. Es wäre schön, wenn es an einem unbewohnten Fleckchen geschähe … das versteht sich von selbst.«
»Ich verstehe gar nichts«, bekannte Klawdi zögernd.
»Sie verstehen sehr wohl«, widersprach der Herzog mit gequältem Lächeln. »Womöglich kommt das für Sie einer Beleidigung gleich, aber die Inquisition ist in unserer Welt eben nicht die stärkste Kraft, Klaw. Gegenwärtig haben wir nichts Besseres an der Hand als Raketen mit netten kleinen Sprengköpfen. Geben Sie die Koordinaten durch. Dann wird es zu der von Ihnen festgesetzten Zeit eine zielgenaue Atomexplosion geben. Im äußersten Notfall natürlich nur, das versteht sich, wie gesagt, von selbst. Versuchen Sie es vorher ruhig mit Ihren Dolchen und Verstärkerflüchen.«
Klawdi sagte kein Wort.
»Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor«, vermutete der Herzog mit zuckender Wange, »dass ich Ihnen derart vertraue?«
Aus irgendeinem Grund fiel Klawdi Helena Torka ein. Das brennende Theater, und dann ihre Worte: »Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
»Eure Durchlaucht können versichert sein, dass ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde«, sagte er tonlos. »Genau wie wir wohl auf derart drastische Maßnahmen werden verzichten können. Ich nehme … Ihr Angebot an, jedoch nicht, um davon auch Gebrauch zu machen.«
Nach einer kurzen Irritation nickte der Herzog unsicher.
Offenbar löste sich der dunkle Klumpen der Angst, die ihn zu diesem Gespräch veranlasst hatte, erst jetzt auf.
»Liefern Sie mich am Ende also doch aus?«
»Ywha, du kommst weder ins Gefängnis noch unter Arrest. Nicht eine einzige Wyshnaer Hexe genießt momentan das Recht der Freiheit! Versteh mich doch!«
Obwohl sie kein Wort sagte, sprach ihr Blick Bände.
Klawdi hätte viel dafür gegeben, hätte er ihnen beiden diese Szene ersparen können, doch er durfte das Ganze nicht weiter hinauszögern. Wenn er wollte, dass man seine Befehle ernst nahm, musste er selbst mit gutem — wenn auch vielleicht nicht gerade mit mustergültigem — Beispiel vorangehen. Darüber hinaus hatte der Besuch des Herzogs einmal mehr die Gültigkeit einer alten Regel unter Beweis gestellt: Wenn du nicht willst, dass dir die Dienerschaft in den eigenen vier Wänden nachspioniert, tritt dir die Schuhe vor der Tür ab.
Ywha konnte nicht länger in seiner inoffiziellen Wohnung leben, aber er wollte sie auch nicht ins Gefängnis stecken, weshalb er der Ordnung halber einen Aufenthaltsraum der Wärter im Zellentrakt beschlagnahmt hatte. Die Wärter hatten das zwar nicht gerade mit Freude aufgenommen, doch der Raum strahlte sogar eine gewisse Behaglichkeit aus, zudem gab es darin alles, was zum Leben nötig war, darunter auch den staatlichen Schutz, an den Klawdi vorbehaltlos glaubte.
Als er Ywha als prophylaktisch Festgenommene in den Akten vermerkte, verspürte Klawdi keinerlei Erleichterung — immerhin hatte er sein professionelles Gewissen doch von einer gewissen Ungereimtheit befreit –, sondern nur blinde Wut und brennende Scham. Und ein Schuldgefühl, denn bereits als er die Verfügung unterschrieben hatte, war ihm klar gewesen, wie sich das Gespräch mit Ywha gestalten würde. Schon damals hatte er vor seinem inneren Auge Ywhas Gesicht gesehen, auf dem ein tödlich beleidigter Ausdruck lag, während die tränenlosen Augen wütend funkelten und die roten Locken wie Flammen züngelten.
»Ywha«, sagte er so sanft wie möglich, »wenn diese verrückten Zeiten vorbei sind — und das werden sie irgendwann sein –, mieten wir dir eine Wohnung. Mit Blick zum Fluss. Du wirst das Leben führen, das dir gefällt. Und nur du allein wirst einen Schlüssel haben. Wenn du möchtest, können wir über der Tür sogar ein Schild anbringen, auf dem steht: Hier wohnt eine absolut freie Hexe. Aber jetzt geht das noch nicht. Wir müssen den Schein wahren, damit niemand einen Grund hat nachzufragen, warum ausgerechnet diese Hexe noch in Freiheit ist.«
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