Damals hatte Ywha ebenfalls den Mund geöffnet und losgeredet. Die Direktorin hatte sie damit zu Boden geschleudert; der Anblick hatte Panik ausgelöst und Ywha die Möglichkeit gegeben, dem Inquisitor vor der Nase zu entschlüpfen.
Irgendwas von einer Leber hatte sie von sich gegeben. Die bald von Löchern zerfressen sein würde. Und wohl auch noch einen medizinischen Fachausdruck …
»Was war das für eine Schule?«
»Für angewandte Künste … Industriedesign … diese Richtung. Ich erinnere mich nicht mehr, was die Leber damit zu tun hatte, von der …«
»Wer ist in Ohnmacht gefallen? Die Direktorin?«
»Sie …«
»Das war in Rydna? Die Schule für angewandte Künste?«
»Ja.«
»Gib mir zwei Minuten. Ich muss jemanden anrufen.«
Die junge Kellnerin, die gerade auf einem kleinen Wagen ihre Bestellung brachte, schaute dem Inquisitor nach. Dann richtete sie den Blick auf Ywha, abschätzend, ohne ihre Neugier zu verbergen. Ywha sah woanders hin.
Der Inquisitor kehrte nicht nach zwei, sondern erst nach zwanzig Minuten zurück. »Die Direktorin deiner Schule ist im Alter von zweiundvierzig Jahren an Leberzirrhose gestorben. Der Inquisitor, mit dem du es zu tun hattest, war Itrus Sowka, der es letztlich doch nicht zum Kurator gebracht hat. Er ist vor zwei Jahren wegen Unfähigkeit entlassen worden … Offenbar hat er nicht nur deine Verhaftung verpatzt. Ich habe ihn nicht gekannt.«
Ywha starrte auf das Tischtuch.
»Weinst du?«
»Sie … war todkrank? Und ich …«
»Vermutlich hat sie zu dem Zeitpunkt nur geahnt … dass etwas nicht stimmte. Die Ärzte haben noch gezweifelt und mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten. Vorahnungen haben sie gequält, aber als willensstarke Frau hat sie die hässlichen Gedanken erfolgreich verdrängt. Zumindest, solange es ging.«
»Und ich habe ihr …«
»Dich trifft keine Schuld.«
»Aber ich bin eine Hexe!«
»Ja, sicher. Vielleicht bist du sogar eine potenzielle Bannerhexe. Eine nicht initiierte. Du hast eine seltsame Gabe, du erfasst die Geheimnisse anderer Leute. Unbewusst. In Stresssituationen. Nun komm schon, iss was.«
Gehorsam blickte Ywha auf den Teller. Lustlos spießte sie mit der Gabel ein bereits abgekühltes Stück Huhn auf, erinnerte sich daran, dass sie eigentlich gar nichts hatte bestellen wollen, seufzte mehrmals und legte das Besteck weg. »Und heute bin ich … auf Ihr Geheimnis gestoßen? Was hat das für mich für Konsequenzen?«
»Gar keine.«
»Ich wollte, ich könnte das glauben.«
»Ywha, hast du … Industriedesign studieren wollen? Oder hast du einfach einen Ausbildungsplatz gebraucht?«
Sie stellte das hohe Weißweinglas, das sie in der Hand hielt, auf dem Tisch ab. »Am Anfang wollte ich gern … Designerin werden. Aber dann …«
»… hast du es dir anders überlegt?«
Ywha hüllte sich in Schweigen und wandte den Blick ab. »Sagen Sie mir ganz ehrlich … hat Nasar mit mir Schluss gemacht?«
»Nein.«
»Ich habe immer geglaubt … wenn ein Mensch … also wenn er jemanden liebt … ist er auch in der Lage … zu verzeihen.« Sie holte Luft. »Zum Beispiel einer Hexe, dass sie eine Hexe ist.«
»Wenn du das wirklich glaubst, hättest du es Nasar sagen sollen.« Der Inquisitor suchte auf dem Tisch nach einem Aschenbecher.
Ywha brachte kein Wort heraus. »Sie machen mir das Leben nicht gerade leicht. So oft sagen Sie Sachen, die ich nicht hören will.«
(Djunka. April)
Seit knapp drei Monaten hatte er das Grab nicht besucht. Und seit seinem letzten Besuch hatte sich dort viel verändert. Die hölzernen Blumentöpfe mit den welken Winterpflanzen waren verschwunden, ein matter schwarzer Stein war aufgestellt worden, mit einem Flachrelief in der rauen Vorderseite. In der Nacht hatte es geregnet, also war Dokijas Gesicht feucht und wirkte seltsam lebendig. Klaw glaubte sogar, auf ihren Schultern würden ein paar Strähnen wippen, aber natürlich war dem nicht so. Der Steinmetz hatte nach einem alten Foto von Djunka gearbeitet, auf dem die Haare, ein wenig lockig und ganz trocken, zu einer prachtvollen festtäglichen Frisur hochgesteckt waren.
Klaw empfand eine Art Reue. Seit dem Tag der Beerdigung hatte er niemanden aus ihrer Familie aufgesucht. Saß der Schmerz, den ihm die Worte ihrer Schwester zugefügt hatten, so tief?
»Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat.«
Das stimmte. Er wollte seinen Kummer nicht teilen. Djunka sollte nur ihm gehören.
Jetzt stand er vor dem gepflegten Grab, betrachtete die steinerne und dennoch unangenehm lebendige Djunka und versuchte mit aller Gewalt, eine aufdringliche, unbarmherzige Frage wegzuscheuchen.
Was, wenn unter dem Stein …
Lag sie dort? Oder war das Grab leer?
Und wenn sie dort lag?!
Der Tag war erstaunlich kalt, seltsam kalt für den Frühling. Fröstelnd schlang sich Klaw die Arme um die Schultern und sprang herum, um die Feuchtigkeit loszuwerden, die aus der Erde in die Schuhe kroch.
Diese Diesellok würde er bis an sein Lebensende nicht vergessen. Selbst über die Schienen einer Straßenbahn würde er nie wieder gehen. In allen parallel nebeneinander gezeichneten Linien würde er fortan Gleise sehen — die ihn jedes Mal erzittern lassen würden.
Wo war Djunka? Hier, unter dem schwarzen Stein? Oder dort, in der fest verschlossenen, stickigen kleinen Wohnung? In die er, ob er wollte oder nicht, zurückkehren musste.
Drei Tage lang lastete nun schon dicker, undurchdringlicher Nebel über dem Boden, der alle Geräusche schluckte.
Ein unglücklicher Zufall war unangenehm. Zwei unglückliche Zufälle waren …
Warum sollte es eigentlich nicht zwei solcher Zufälle hintereinander geben? Wie viele Menschen sterben jährlich unter den Rädern eines Güterzugs oder einer Eisenbahn? Vor allem im Nebel. Oder betrunken.
Klaw kratzte sich den Kopf. Gestern, nachdem er ins Wohnheim zurückgekommen war, hatte er wortlos eine ganze Flasche Kognak getrunken, die ursprünglich für ein Fest gedacht gewesen war. Juljok Mytez, der ihn mit der leeren Flasche erwischt hatte, konnte es nicht fassen. Es tat ihm um den edlen Tropfen leid, aber auch um …
Zu allem Überfluss hatte der Alkohol nicht einmal Wirkung gezeigt. Selbst angetrunken hatte sich Klawdi nicht gefühlt. Gut, seine Beine waren butterweich gewesen, aber sein Kopf war doch beschämend klar geblieben. Unablässig war ihm darin ein einziger Gedanke herumgegangen.
Doch den würde Klaw niemals laut aussprechen. Mehr noch: Der Gedanke an sich schien ihm schon ein Verbrechen zu sein.
Und wenn er sich bei ihrem Ausflug einen angetrunken hatte? Und sich jetzt bloß nicht mehr daran erinnerte? Vielleicht hatten sie, Djunka und er, sich wärmen wollen, als sie am Lagerfeuer gesessen hatten, von innen sozusagen?
Nein. Heute war es kalt, aber als sie den Ausflug unternommen hatten, war es warm gewesen, frühlingshaft und angenehm. Und sein Kopf war auch klar gewesen.
Die steinerne Djunka blickte ihn tadelnd an. Als wolle sie sagen: Das denkst du von mir? Von mir?
»Hast du …«, flüsterte Klaw fast tonlos.
Auf dem schwarzen Stein ließ sich furchtlos eine kugelrunde, fröhliche Meise nieder.
Kurz bevor Klawdi den Platz des Siegreichen Sturms erreichte, blinkte das rote Licht in seinem Auto auf. Der Notruf. Klaw hatte es allen untersagt, ihn während einer Fahrt zu benachrichtigen, falls die Sache warten konnte. Manchmal träumte er nachts von diesem roten Lämpchen, wie es sein perfides, stechendes Alarmsignal aussandte.
»Nieder mit dem Abschaum«, erklang die vor Aufregung schrille Stimme des Kollegen aus der Zentrale. »Ein Signal. Von der Gräfin. Ein rotes Signal.«
Читать дальше