»Ich bin gleich wieder da«, teilte er der verschlossenen Tür mit.
Der gewohnte Ablauf im Theater war bereits gestört, durcheinander geraten, überstürzt zu Ende gebracht worden und hatte sich jetzt Gott weiß wohin verzogen. Die Türen zu den Garderoben standen sperrangelweit offen, in allen Ecken ließ sich eine sachliche und betont gelassene Lautsprecherstimme vernehmen: »An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Bleiben Sie bitte in Ihren Garderoben. Die Vorbereitungen für die Vorstellung sind eingestellt. An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Kommen Sie nicht in die Gänge hinaus, bleiben Sie in Ihren Garderoben.«
Der Sprecher war mit der Befehlstechnik offenbar gut vertraut. Zumindest vorläufig gehorchte man ihm. In den Gängen herrschte gähnende Leere, Klawdi lief sie, begleitet von verängstigen Blicken, hinunter. Aus einer Tür blickte eine ältere Dame, die mit beiden Armen purpurrote Mäntel umklammerte, wie sie Schurken trugen. »Junger Mann …«
Als sich Klawdi der Frau zuwandte, prallte diese zurück. Der Inquisitor wusste, dass er, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete, extrem widerwärtig aussah. Dafür brauchte er nicht einmal einen purpurroten Mantel!
Den Chef der Sondereinheit fand er in einem mit Ankündigungen gespickten Büro. Zwei in einer Ecke kauernde Frauen und ein Mann im Frack beäugten scheu das Funkgerät in den Händen des ungebetenen Gastes.
»Wir haben sie abgefangen, Patron. Die Mädchen. Neun insgesamt. Aus der Abschlussklasse.«
»Sind sie aktiv?«
»Nein, Patron. Sie sind durch die Bank taub. Genau wie im Dossier vermerkt. Die Vorstellung ist abgesetzt. Die Zuschauer werden nicht eingelassen. Wir durchkämmen gerade sämtliche Etagen.«
»Die Torka ist nicht in ihrem Büro. Sind Sie sicher, dass sie sich noch im Theater befindet?«
»Alle haben sie kommen sehen. Aber niemand hat gesehen, dass sie das Theater verlassen hätte. Ihr Auto steht auch noch auf dem Parkplatz.«
»Wie viele sind es Ihrem Gefühl nach, Kosta?«
Der Chef der Sondereinheit verengte die Augen zu Schlitzen. Einige der Fähigkeiten eines Inquisitors im Außendienst — und die Witterung gehörte dazu! — überstiegen sogar die des Großinquisitors: Kosta verhörte die Hexen nicht, er fing sie ein.
»Viele, Patron. Hier in diesem Gebäude halten sich viele auf … fünf oder sechs. Und bisher haben wir keine Einzige von ihnen gefunden.«
»Ist das Gebäude umstellt?«
Der Leiter verdrehte die Augen, im Grunde eine Unbotmäßigkeit, dafür jedoch eine Geste, die jeden Zweifel an der Professionalität seiner Einheit ausräumte.
»Gut, Kosta. Machen Sie sich an die Arbeit. Ich werde die Torka suchen.«
Er witterte die Hexe schon, als er die marmorne Zuschauertreppe in den dritten Rang hochstieg. Er witterte sie klar und deutlich. Offenbar eine Kampfhexe. Wie nah sie sich doch hatte unbemerkt an ihn heranschleichen können!
Er biss die Zähne aufeinander, um der Gegnerin einen mentalen Befehl zu senden. Die Reaktion erfolgte in Form eines kurzen Aufschreis. Klawdi folgte dem Geräusch, riss den Vorhang zurück, stürmte zur nächsten Treppe, die für den Notfall gedacht war. Unten klackerten sich rasch entfernende Absätze.
»Stehen geblieben!«
Die Türen, die zum zweiten Rang führten. Zum ersten. Zur Parkettloge. Ein rotes Kleid, das zwei Treppenabsätze weiter unten aufschimmerte.
Ein verzweifelter Schrei im Saal. Auf der Bühne. Fast unmittelbar darauf roch es nach Rauch.
Die verfolgte Hexe blieb stehen. Klawdi witterte das, witterte, wie sie stehen blieb, dort unten, ein Stockwerk tiefer, als wolle sie sehen, wie der Großinquisitor auf das Feuer reagierte. Für wen hielten die sich eigentlich!
»Feuer!«
Er hatte die Tür zur Loge fast erreicht. Der riesige, prachtvolle Saal verschwamm im Halbdunkel. Der Vorhang war hochgezogen, sodass er sich an der üppigen, leicht pompösen Kulisse für die Ballettpremiere ergötzen konnte. Ein Palast aus Brokat, ein Kerker aus Samt, ein Sonnenunter- oder -aufgang aus rosafarbenem Tüll.
Und schwarzer Rauch. Obwohl die Dekoration mit einem Brandschutzmittel behandelt worden war, brannte sie wie Zunder.
»Feuer!«
Die Sirenen heulten los. Ein Mann mit einem schaumspuckenden Handfeuerlöscher sprang auf die Bühne. Ihm folgte ein zweiter, schließlich ein dritter …
Der Rauch stieg auf. Die Gipsgesichter an der Decke büßten ihre Blässe ein, in die zuvor ausdruckslosen Augen trat eine fast menschliche Müdigkeit. Oder kam das Klawdi nur so vor?
Die Hexe. Sie war jetzt ganz in der Nähe. Sie würde den Schmerz, den sein Schlag ausgelöst hatte, überwinden und …
Erstaunt blickte Klawdi sich um. Etwas Neues hatte sich ins Bild geschoben.
Auf seine Brust war der Lauf eines großen schwarzen Revolvers gerichtet.
»Inquisitor! Henker!«
Die junge Närrin hatte sich vorgenommen, ihm vor seinem Tod noch tüchtig die Meinung zu geigen. Hätte sie gleich geschossen, hätte sie eine Chance gehabt.
»Du hast einen Fehler gemacht, Mädchen.«
Sein mentaler Schlag schleuderte sie gegen die Wand. Nahezu lautlos fiel der Revolver auf den weichen Läufer. Er trat an sie heran, blickte ihr in die vor Schmerz ganz schwarz gewordenen Augen und maß ihren Brunnen aus. Achtzig. Außerdem war die Initiation erst kürzlich erfolgt.
Er packte sie heim Arm, der ungewöhnlich dünn, fast schon dürr war. Der feinknochige Arm einer Ballerina. Er fühlte ihren Puls.
»Wer hat dich initiiert? Wo? Warum hast du das getan? Du hättest einfach nur deine Störche tanzen sollen. Also, warum denn?«
»Ich bin eine Hexe«, krächzte sie ihm ins Gesicht.
»Du bist ein Mensch.«
»Ich bin eine Hexe! Eine Hexe! Sie werden schon noch sehen …«
Sie verdrehte die Augen und rettete sich in die Bewusstlosigkeit.
»Wo?!«
Der Kopf auf dem dünnen Hals fiel nach hinten. Weiße Augäpfel starrten Klawdi an. Die Brokatkulisse loderte grell. Im Orchestergraben wuselten Menschen herum. Verbranntes Plastik verströmte einen beißenden Geruch.
Er warf sich das Mädchen über die Schulter und schleppte es in den Gang. Ein Ballettmädchen wiegt nicht so viel — aber selbst in ohnmächtigem Zustand beeinträchtigte es seine Witterung. Die Nähe einer Hexe ließ ihn die anderen nicht mehr wahrnehmen.
Feuersirenen heulten. Überall zog es. Menschen rannten zu den Notausgängen. Hier hatte jemand Tränen in den Augen, dort zeigte ein anderer fröhliche Neugier.
»Patron?!«
»Haben Sie das Gebäude durchkämmt?«
»Das Feuer breitet sich zu schnell aus, Patron.«
»Haben Sie die Hexen geschnappt?«
Die Adern an Kostas Schläfen traten hervor. Er wusste, dass die Operation fehlgeschlagen war, aber er verstand nicht, warum.
»Bringen Sie das Mädchen hier ins Auto! … Scheiße!« Die Schlüssel in seiner Tasche! Mit dem Anhänger in Form einer Hühnerkralle. »Ywha! Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Er stieß einen Fluch aus, der den Chef der Sondereinheit zurückprallen ließ.
Kaum hatte Ywha den Brandgeruch wahrgenommen, war sie aufs Fensterbrett geklettert.
Das Büro der Direktorin ging zum Platz vor dem Haupteingang hinaus, wo sich Schaulustige zusammendrängten. Viele, weitaus mehr als Theaterbesucher, und mit jeder Sekunde wurden es noch mehr, denn kein Bühnenspektakel konnte sich mit dem Szenario messen, das sich zu diesem Zeitpunkt in der Wyshnaer Oper abspielte.
Das Fenster war fest verschlossen, die Scheibe aus Panzerglas. Vor wem hatte Helena Torka Angst? Vor Dieben? Oder etwa vor Scharfschützen?!
Ywha schlug mit einem massiven Briefbeschwerer zu. Anschließend wuchtete sie einen Stuhl hoch und schleuderte ihn ins Fenster. Der Geruch nach Rauch kroch unter der Tür durch und waberte aus den Ritzen der Klimaanlage. Ywha hätte nicht mal ihr feines Näschen haben müssen, um zu begreifen, dass es sich um den erstickenden Geruch eines Feuers handelte.
Читать дальше