»Zurück … Inquisitor …« In ihrer Hand blitzte trüb Metall auf. Silbern. Eine geschwungene Silberklinge.
Dann folgte ein Stöhnen. Die Hexe taumelte auf eine graziöse, in gewisser Weise schöne Art zurück, krümmte sich in der Mitte zusammen und fiel zu Boden.
Ihr Ärmel schlug aufs Parkett auf, mehr war nicht zu hören.
Die andere winselte leise. Über ihnen wummerte auf der Bühne die Musik, und mehrere schwache Mädchenstimmen näselten rhythmisch los.
Klawdi hielt die Leute, die durch die Tür drängen wollten, mit einer Geste auf. Er trat an die gestürzte Hexe heran und fuhr mit der Hand durch die Luft über ihr, als wolle er sie streicheln, traue sich jedoch nicht. Seine Hand spürte auch nichts — als ob da auf dem Parkett niemand läge.
Klawdi packte die Hexe bei der Schulter und drehte sie unter Aufbietung aller Kraft auf den Rücken.
Das Blut der Hexe war schwarz wie Pech. Erst jetzt fiel Klawdi auf, dass sie den blauen Kittel einer Maskenbildnerin trug. Zwischen den beiden Brusttaschen lugte kokett der Griff eines silbernen Ritualdolchs heraus, der ihr einen schnellen und sicheren Tod beschert hatte. Eine würdige Alternative für jede Hexe. Ein ruhmreicher Abgang.
»Was … geht hier … Meine Herren, Sie …«
Klawdi wandte sich um. Mit dem Ellbogen stieß er den schweißgebadeten, verängstigten Star zurück, der völlig aufgelöst vor dem Eingang der eigenen Garderobe herumwieselte. Was hatte die Hexe gesagt? Die Toten würden sich auf den Tribünen stapeln?
Und was hatte die Bannerhexe prophezeit? »Im Kreis Odnyza, ja, ja, ja.«
Was hatte sie noch vorhergesagt?
Vor der Tür, eine verängstigte Traube von Stadionmanagern und Bühnenpersonal im Rücken, hatte sich der Kurator Mawyn aufgebaut, in dessen Augen es kalt und gierig loderte.
(Djunka. April)
»Wohin soll ich euch bringen, Kinder?«
Zwei Tramper, ein Junge von etwa sechzehn Jahren und ein Mädchen, das in einen langen schwarzen Mantel gehüllt war, dessen hochgestellter Kragen ihr Gesicht bis zu den Augen verbarg.
»Mir-Passage? Oh, oh, um diese Zeit gibt es da jede Menge Staus …«
»Wir haben es nicht eilig.«
Gemütlich fraß das Auto die Kilometer. Mit dem Rücken gegen den Ledersitz gepresst saß Klaw da, Djunkas kalte Finger fest in seiner Hand haltend.
Jetzt würde alles anders werden. Er würde verhindern, dass sie weiter gejagt würde, er würde niemanden an sie heranlassen. In Wyshna wimmelte es von Menschen, das war kein ödes Sportzentrum. Da sollten die Tschugeister mal versuchen, zwischen einer Million Spuren diejenigen Djunkas aufzunehmen.
Er hatte eine Wohnung im Stadtzentrum gemietet. Dafür hatte er sein Sparbuch geplündert, das er vor drei Jahren angelegt hatte, um sich den Traum von einem Sportwagen zu erfüllen. Einen winzigen Käfig im vierzehnten Stock eines engen Bienenstocks hatte er bekommen, in dem sogar die Nachbarn einander nur flüchtig und zufällig kannten. Jetzt würden Djunka und er einen richtigen, ruhigen Alltag genießen. Als ob das nie passiert wäre.
Angst ließ ihn jäh zusammenfahren, und er drückte ihre Hand fester. Er fürchtete um Djunka, aber, was noch schlimmer war, er fürchtete sich auch vor ihr. Sosehr sich sein Gehirn auch anstrengte, er konnte diesen Widerspruch nicht überwinden: Djunka war gestorben. Djunka war zurückgekehrt. Sie lag im Grab, sie war tot — und sie saß hier neben ihm.
Mit aller Entschlossenheit nahm er sich vor, nie mehr daran zu denken. Man sollte ohnehin nicht allzu intensiv über das Leben nachdenken, denn das nahm einem die Lust daran. Zukünftiges Unheil ließ sich nicht vorhersagen, Probleme konnte man nicht vorab lösen.
Auf Djunkas Sitz entstand ein feuchter Fleck. Der Badeanzug nässte durch den dünnen Mantel.
»Frierst du nicht?«
Eine verneinende Kopfbewegung. Ihr schien jetzt nie kalt zu sein, selbst wenn ihre Finger so eisig wie der Winter waren.
Als spüre sie seine Stimmung, drehte sie ihm den Kopf ein wenig zu. Sanft drückte sie seine Hand. »Klaw … verlass … mich … nicht.«
Das Zimmer war winzig klein. Zur Straße hin gab es einen halbrunden Balkon mit einem schiefen, verrosteten Geländer. Als Klaw zum Rauchen hinaustrat, wurde ihm sofort schwindlig, denn vierzehn Stockwerke unter ihm schossen unaufhaltsam zwei Ströme aus funkelndem Metall, bunten Lichtern und verärgertem Gehupe aufeinander zu, das zu ihm heraufdrang. Die Nacht schien sich hinter ein schmutziges, künstliches Licht zurückgezogen zu haben.
Djunka saß auf dem durchhängenden Sofa. Den Mantel hatte sie abgelegt, sodass sie nur den verfluchten schlangenfarbenen Badeanzug trug.
»Zieh den aus«, bat Klaw im Flüsterton. »Wir wollen ihn … verbrennen.«
Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, kam sie der Bitte nach. Sie streifte erst einen, dann den anderen Träger über die Schulter. Klaw, der sich nicht rechtzeitig umgedreht hatte, konnte den Blick nun nicht mehr von ihr wenden. In jenem Leben hatte er Djunka nie nackt gesehen. Deshalb konnte er nicht beurteilen, ob sie sich seitdem verändert hatte oder nicht.
Ihre Brust hob sich bleich gegen den Rest des Körpers ab. Und ihre Sonnenbräune schimmerte nicht bronzen, sondern war aschgrau. Oder spielte ihm da das Licht, das von der Straße hereinfiel, einen Streich?
Djunka erhob sich und rollte die Schlangenhaut über die Schenkel. Klaw blinzelte. Der Badeanzug verwandelte sich in einen nassen Schlauch, der ihr die Knie fesselte.
Hitze überkam ihn. Unwillkürlich griff er nach der Schnalle seines Gürtels. Djunka schleuderte den Badeanzug fort und erhob sich. »Klaw …«
Seine Nackenhaare sträubten sich. Fast hätte er aufgeschrien, so schmerzhaft knallten die beiden gleich starken, auch gleichermaßen erbarmungslosen Wissensströme in ihm gegeneinander.
Der geliebte Körper, seine Freundin, seine Frau. Das erste Mal …
Andererseits die nassen Haarsträhnen, die eisigen Hände, die Fußabdrücke im gefrorenen Sand, der erstickende Geruch der Blumen auf dem Grab und vor allem ihr Gesicht in dem breiten Trauerrahmen …
Er sah sie im Grab vor sich. Und er sah sie jetzt.
»Klaw … jag … mich … nicht … fort …«
»Das tu ich nicht«, stieß er mit trockener Kehle hervor. »Aber …«
»Hab keine Angst … Klawuschka, hab keine Angst. Ich liebe dich doch. Umarm mich, Klaw, ich sehne mich schon so lange danach …«
Er rammte sich die Zähne so in die Unterlippe, dass warmes Blut über sein Kinn rann. »Nicht jetzt, Djunotschka …«
»Klaw! Klaw …«
Ich kann das nicht, dachte er hilflos. Ich … kann das nicht.
Da stand Djunka vor ihm, mit fischkalten Händen, als oh sie zu lange im Flusswasser geblieben wäre.
Und das stimmte ja auch. Sie war zu lange dort drin geblieben.
Er musste sich zwingen zu glauben, dass die Zeit zehn Monate zurückgestellt worden war. Dass sie heißen Juni hatten, er morgen seine Prüfung ablegte und Djunka nach dem Baden einfach fror. Er musste sich zwingen, die Beerdigung und diesen schrecklichen Blumengeruch zu vergessen. Ganz genau wie den Geruch der Friedhofserde. Er musste es einfach vergessen. Auf der Stelle.
»Klaw …«
»Gleich, Djunotschka. Gleich …«
Dem Kuss haftete der Beigeschmack des Blutes an, das aus seiner verletzten Lippe troff.
»Klawuschka …«
Er presste die Zähne aufeinander. Er wusste, dass die Entscheidung gefallen war.
Das Telefon heulte mit langen Tönen. Das Telefon flehte mit jämmerlichen Seufzern: Komm zu mir, komm! Nimm den Hörer ab, das ist wichtig, davon hängt das Leben eines Menschen ab!
Nasar hörte die Bitte nicht. Er zog einfach die Schnur aus der Buchse, damit stellte er in seiner Welt wieder Ruhe und Stille her. Vielleicht schlief er aber auch nur.
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