Diese Schweine!
Er sah den engen Kranz des Reigens, in dessen Mitte sich eine weibliche Figur in einem schlangenfarbenen Badeanzug wand, schon fast vor sich. In den geballten Fäusten spürte er förmlich das warme, blutbeschmierte Fleisch ihrer Henker. Mit allen Kräften musste er vorwärtsstürmen, um sie allein gegen eine Überzahl zu verteidigen.
Tatsächlich aber machte er keinen einzigen Schritt.
Er atmete ein. Und aus. Langsam zählte er bis zehn und ging gelassen und maßvoll weiter. Niemand, kein einziger Beobachter dieser Szene, hätte in seiner Miene etwas anderes zu entdecken vermocht als die erstaunte Neugier eines Jungen.
Die Tschugeister tanzten nicht. Es waren vier, und sie marschierten am Ufer der teilweise vereisten Bucht entlang, rauchten und warfen sich geschäftig Sätze zu. Ohne die Worte richtig zu verstehen, wusste Klaw, dass überhaupt kein Tanz stattgefunden hatte. Tschugeister, die getanzt und ihr Opfer getötet hatten, zeigten andere Gesichter. Andere Bewegungen, ein anderes Verhalten.
Also war Djunka …
Klaw spürte, wie heißes, pulsierendes Blut in seine bleichen, tauben Wangen schoss. Djunka lebte doch noch! Ihr war nichts geschehen! Sie hatten sie gar nicht erwischt!
Alles Gute zum Geburtstag, Klaw. Heute ist dein Glückstag.
Sie hatten ihn längst bemerkt. Er wartete noch einen Augenblick, genau so lange, wie ein forscher Junge brauchte, um seine natürliche Schüchternheit zu überwinden. Schließlich marschierte er munter weiter. »Guten Tag«, sagte er. »Ist hier was passiert?«
Wieder diese Blicke. Klaw hatte eigentlich geglaubt, die Angst vor ihnen ein für alle Mal überwunden zu haben. Ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellte.
»Hallo.« Der Chef der Gruppe war ein kleiner junger Mann mit schwarzem Haar; offenbar stammte er aus dem Süden. »Verrätst du uns vielleicht deinen Namen und was du hier tust?«
»Ich bin Klawdi Starsh von der Wyshnaer Schule Nr. 3. Ich wollte rudern …«
»Ach ja? Das Wasser ist noch gefroren, Junge. Eishockey könntest du spielen …«
Daraufhin sollte Starsh tunlichst in Pein vergehen. Er sollte unter dem hartnäckigen Blick erröten und erbleichen, sich tröpfchenweise die schreckliche Wahrheit aus der Nase ziehen lassen.
Und wollte er tief in seinem Innern denn nicht auch gestehen? So wie man essen oder trinken will?
Ihm kam entgegen, dass er jünger aussah, als er war. Der Tschugeist wusste, dass kein Junge unter einem solchen Blick zu lügen vermochte. Selbst ein Erwachsener würde da zusammenbrechen.
Mit den Augen klappernd, mimte Klaw den Aufgewühlten. Er würde doch nur den üblichen Kram erledigen … das Haus sauber machen, die Rettungswesten flicken … sämtliche Schlösser überprüfen … Im letzten Jahr war der Kühlschrank aus dem Haus des Trainers gestohlen worden … und einen offiziellen Objektschützer gebe es eben nicht!
»Kommst du allein her? Oder triffst du hier vielleicht jemanden? Eine Freundin?«
Er schüttelte den Kopf, bis seine Haare unter der Kapuze herauslugten. Aber nein, niemand wolle mit ihm in diese Einöde, ihm gefalle ja gerade, dass er hier ganz ungestört sei …
»Wann bist du das letzte Mal hergekommen? Wer ist dir hier begegnet? Wen hast du gesehen?«
Bereitwillig gab er Auskunft: Da waren schon einige Leute. Ein Junge habe sich hier herumgedrückt, vermutlich wollte er etwas klauen. Dann die Angler. Die lüden ihn immer auf einen Tee ein.
Die Tschugeister fielen ihm grob ins Wort und verlangten, er solle den Mund halten, kehrt machen und verschwinden. Und sich hier nie wieder blicken lassen. Allem Anschein nach treibe sich hier nämlich eine Njawka rum!
Mit hastigen Schritten verließ er das Sportzentrum, nicht ohne sich immer wieder umzudrehen. Auf halbem Weg zur Haltestelle schlug er sich in ein junges Tannenwäldchen, hockte sich auf die trockenen kalten Nadeln und zündete sich eine Zigarette an.
Sie wollten Djunka umbringen. Sie zwingen, noch einmal zu sterben. Djunka jedoch war verschwunden. Keine Ahnung, warum, aber er wusste genau, dass sie in Sicherheit war, dass ihr keine Gefahr mehr drohte.
Diesmal.
Ywha lag auf dem Sofa, eine weiche Decke unter sich. Sie lag da, drückte die Schulter gegen die Wand, hatte sowohl ihren Pullover als auch ihre abgetragenen Hosen noch an. Priw saß zu ihren Füßen, seine lässige Haltung hätte sie beruhigen sollen. Ruhe und Freundlichkeit strahlte er aus, keinen Druck. Trotzdem brachte Ywha es nicht fertig aufzustehen, solange Priw da war. Vielleicht unterstellte sie ihm völlig zu Unrecht gemeine Absichten. Einfach aus Angst. Aber wovor sollte sie sich fürchten — da sie doch keine Njawka war?
»Wovor hast du Angst?«, fragte Priw leise, als habe er ihre Gedanken gelesen.
Sie drehte den Kopf auf dem Kissen herum. »Vor nichts …«
Die Tropfen, die sie, sich seinem sanften Befehl beugend, eingenommen hatte, waren tatsächlich weder eine Droge noch ein Schlafmittel gewesen, sondern nur irgendwelche Kräuter, eine angenehm entspannende Mischung. Doch im Grunde war ihr das egal. Es gefiel ihr, sich in seiner Macht zu fühlen. Hündische Ergebenheit und friedliche Ruhe — ja, ohne Frage, diese Art der Ruhe tat ihr gut.
»Willst du dich waschen?«
Ywha hob die schweren Lider. »Hä?«
»Willst du duschen? Du bist dreckig wie ein Ferkel …«
»Ja.« Ywha rang sich ein Lächeln ab. »Wenn die Fische … im Bad … dann nicht erschrecken.«
Zu spät wurde ihr der Hintersinn des Satzes bewusst. Entsetzt errötete sie. Es brannte, bis ihr die Tränen kamen.
»Das sind ganz normale Fische«, erwiderte Priw amüsiert. Seine Hand ruhte auf Ywhas Bauch.
Ywha fing an zu weinen. Sie wusste nicht, welche ihrer Sorgen das auslöste. Vermutlich war es der Kummer darüber, nie einen friedlichen Morgen mit Geschirrklappern erleben zu dürfen. Darüber, dass die Sonne niemals durch das offene Fenster hereinfallen und Nasar sie nie zum Frühstück rufen würde. Ihr Leben hätte Ywha für einen solchen Morgen gegeben. Für einen kurzen Augenblick dieses viel belachten Glücks. Dafür, so zu sein wie alle.
»Ich bin eine Hexe«, erklärte sie Priw, indem sie die Tränen herunterschluckte.
»Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen«, erwiderte er ernsthaft.
»Du … Ekelst du dich nicht vor mir? Ich widere dich nicht an?«
Priw betrachtete sie so lang und aufmerksam, dass sie sich am liebsten unter die plüschige Decke verkrochen hätte.
»Du hast Angst vor mir.« Nachdenklich fuhr er sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Hat schon mal jemand Angst vor dir gehabt?«
Ywha schluchzte.
Mit einer unmerklichen Bewegung beugte sich Priw vor, wobei er ihr Haar gegen das Sofa drückte, bis es ziepte. Ywha nahm den Geruch von Minze wahr, der von ihm ausging. Zahnpasta vielleicht, oder ein Kaugummi.
»Wir werden uns jetzt an deinem … Professorensöhnchen rächen.« Behutsam befreite er Ywhas malträtiertes Haar. »Gleich jetzt! Stimmt’s, er ist ein Idiot?«
»Ja«, flüsterte sie, während sie gebannt in die schwarzen Augen mit den starren Pupillen blickte.
»Heulen wird er, wenn er erfährt, wie wir uns an ihm gerächt haben, oder etwa nicht?«
»Ja«, bestätigte Ywha flüsternd. Sie sah das bleiche Gesicht Nasars mit seinen zusammengepressten Lippen vor sich.
Priw meinte das völlig ernst.
»Du bist bestimmt müde«, presste sie heraus, sich an ihre Unentschlossenheit klammernd, »nach deiner Schicht.«
»Ich bin schon wieder topfit. Na, geh die Fische füttern. Nimm das grüne Handtuch. Die Schachtel mit dem Futter steht auf dem Regal neben dem Spiegel.«
Die Fische fraßen gierig.
Die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen, an der Stelle des Schlosses klaffte ein Loch. Unsicher stocherte Ywha mit dem Finger darin herum. Warum machte sie sich bloß all diese Gedanken? Schließlich ging sie nicht zum Schafott. Sie war nicht zum Tode verurteilt. Sie stand nicht im Zentrum des Kreises tanzender Tschugeister, landete nicht in dem Plastiksack mit Reißverschluss. Befand sich nicht in den Verliesen der Inquisition. Oder in dem stickigen Büro, in dem die Hexen zur Registrierung antreten mussten, was angeblich eine grauenvolle Prozedur war.
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