Im letzten Moment packte sie jemand am Bein. Die blassen Zwillingsgestalten schrien erneut auf, zweistimmig, jämmerlich und panisch.
Es waren so viele. Und sie waren überall. Sie bildeten Ringe, diese Schwarzgewandeten, die sich in der Dunkelheit der Nacht verloren hätten, wenn ihre groben Westen aus Kunstpelz nicht im schneidenden Licht der Laternen gefunkelt hätten. Kaum hatten sie einen Kreis gebildet, legten sie die Hände auf die Schultern des Nebenmannes und schritten vorwärts.
Ein Schrei.
Der Kreis der Tänzer zog sich zusammen, als sei er eine fleischfressende Pflanze, die eine Fliege erwischt hat und die Blatthälften zufrieden über der Beute zusammenklappt, als sei er ein grummelnder Magen, der sich anschickt, alles Lebendige zu verdauen, das unvorsichtigerweise in seine Nähe gekommen ist. Der Tanz der Tschugeister ist nichts anderes als das Instrument, mit dem eine grauenvolle Strafe vollzogen wird.
Ihr Reigen begann, dieser Wechsel komplizierter Bewegungen, mal langsamer und bedächtiger, mal abrupter und entschlossener, ganz so wie bei einem Spinnrad, das seine Fäden ausspuckt. Nur dass dieser schwarze Ring, der sich drehte, jemandem den Tod brachte.
In die Szenerie mischte sich der Veilchengeruch, ein unnatürlich starker Geruch.
Die Erde erbebte.
Mit jeder Bewegung vervielfältigten sich die unsichtbaren Fäden, die auf ihre Opfer einpeitschten, diese pulsierenden Schläuche, die ihnen das Leben nahmen, diese schwarzen Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten. Zwei Schatten lagen in einer quälenden Agonie, ein dritter gehörte der erstarrten, lautlos schreienden Ywha.
Die erstickende, nach Veilchen riechende Nacht wendete alles nach links, und von der dampfenden, nach außen gekehrten Innenseite ihres Fells baumelten die inneren Organe herab.
»Hexe …«
Zu ihrem Glück verlor Ywha kurzzeitig das Bewusstsein. Die Tschugeister zogen sie, gepackt an Armen und Schultern, über das Gras und die kleinen, sich in den Körper bohrenden Steine. Die Nacht verwandelte sich in Tag, denn gleich mehrere Scheinwerfer knallten ihr ins Gesicht, das sie aufkreischend mit den Händen bedeckte.
»Halt den Mund, du Idiotin!«
»Ich gehöre nicht zu denen!«
»Das kannst du uns alles noch nachher erklären …«
Dann ließen sie sie in Ruhe.
Dafür fingen nun die Njawken an zu schreien. Und Ywha ahnte, was sie durchmachten. Am Ende blieb nur die leere Haut von ihnen übrig, dieser Overall, der so kunstvoll zusammengenäht schien. Und die Plättchen der Fingernägel blieben auch noch übrig, ebenso wie die weißen Bälle der Augen und die Haare auf dem flachen Kopf, der an einen schlaffen Fußball erinnerte und deshalb übernatürlich groß wirkte.
Als die Tschugeister ihren Tanz beendet hatten, war das Einzige, wozu Ywha noch imstande war, von ihnen wegzukriechen. Unter den Waggon, wo sie sie jedoch gleich fanden.
»Komm her!«
Sie leistete keinen Widerstand.
»Du bist doch eine Hexe, oder? Was machst du dann hier, du Idiotin?«
Sie hätte es ihnen erklärt, bestimmt hätte sie das.
»Das Mädchen ist ja mit den Nerven völlig am Ende«, mischte sich einer der Tschugeister ein, dessen Taschenlampe ein Gelbfilter verblendete. »Was treibt sie sich auch nachts in dieser finstren Gegend rum? Und warum rennt sie vor uns weg? Schließlich ist sie doch keine Njawka!«
Ywha spürte, wie ihre willenlose Hand auf die kräftige Schulter von jemandem gelegt wurde. »Gehen wir, Mädchen. Und du …« Das galt seinem Kollegen. »Warum händigst du ihr nicht gleich ein Handbuch über das richtige Verhalten von jungen Hexen aus, die sich nicht initiieren lassen wollen und die Registrierung fürchten? Das trifft doch auf dich zu, oder?« Letzteres galt Ywha.
Ywha konnte nicht aufhören zu schluchzen. Der mit der harten Schulter begriff alles viel zu schnell, erklärte alles viel zu ausführlich. Der Boden unter ihr schwankte, weshalb sie sich, bemüht, das Gleichgewicht zu wahren, in die Fellweste verkrallte, die seine Schulter bedeckte.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir tun dir nichts. Auf solche wie dich haben wir’s nämlich gar nicht abgesehen.« Das war der mit dem Gelbfilter. »Kann schon sein, dass andere bei dir nichts hätten anbrennen lassen, aber wir sind in festen Händen. Und unsere Freundinnen sind sauberer und auch hübscher als du.«
Jemand lachte. Jemand warf ihm ein freundliches »Halt den Mund« hin. Gegen die Erstarrung und den Schmerz ankämpfend, kam Ywha zu dem Schluss, der Besitzer des gelben Filters müsse der Scherzbold unter ihnen sein. Ein alberner Tschugeist — Sachen gibt’s!
»Hey, Mädchen, ist das deine Tasche? Oder gehört die einer von denen !«.
Jammernd presste Ywha die Tasche an sich.
Ihre Autos standen auf der anderen Seite der Mauer. Ein Laster mit einem gelb-grünen Blinklicht auf dem Dach und einige PKWs, große und kleine, ältere und noch nicht ganz so abgenutzte.
»Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte ein großer Tschugeist mit rundem, fast kahl rasiertem Schädel, während er die Tür des Lasters vor Ywha aufriss. Achtlos hatte er sich einen mit einem Reißverschluss gesicherten Plastiksack unter den Arm geklemmt. Ywha wusste, was sich darin befand.
Und dieses Wissen musste sich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn derjenige, auf dessen Schulter sie sich stützte, sprach jetzt beruhigend auf sie ein: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben …«
Sie schüttelte den Kopf. Sie würde sich nicht zu Tode erschrocken in diesen Laster setzen. Eher würde sie sich vors Auto werfen …
»Na komm, ich nehm dich mit«, sagte der mit dem Gelbfilter plötzlich völlig ernst. »Ich habe einen Maxik. Vor einfachen PKWs wirst du doch keine Angst haben, oder?«
Alle sechs, die noch vor einer halben Stunde Teil jenes monsterhaften Mechanismus gewesen waren, sprachen jetzt leise miteinander, wie ganz normale Menschen. Ein Auto nach dem nächsten wurde angelassen. Mit einem Mal begriff Ywha, dass auch die Tür des Lasters zuschlug, um sie herum niemand mehr war — nur derjenige, an dessen Schulter sie sich festgehalten hatte. Er vereinbarte etwas mit dem rundschädligen Hünen, bevor sie dann über den kommenden Tag sprachen, den sie jedoch nicht »morgen«, sondern »heute« nannten.
Der Himmel war nicht mehr schwarz, sondern schon grau. Ein dunkles, trübes Grau, die Dämmerung …
»Was ist? Weißt du nicht, wohin?«, wurde Ywha von dem gefragt, den sie insgeheim den Scherzbold getauft hatte. »Hast du kein Zuhause? Hat man dich rausgeschmissen? Oder bist du nicht von hier? Hast du kein Geld?«
Sie wollte ihn schon bitten, sie in Frieden zu lassen, verzog stattdessen bei dem kläglichen Versuch, ein Lächeln zustande zu bringen, aber nur die Lippen.
»Gehen wir.« Er griff nach ihrem Arm.
Er fuhr wirklich einen Maxik. Einen kleinen Wagen, dessen Hintern offenbar gerade Bekanntschaft mit dem Laster geschlossen hatte, sah der Kofferraum doch wie eine Quetschkommode aus.
»Ich habe jetzt einen Tag frei … Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin kein Tier … Aber schau mal in den Spiegel. Du bist eine schöne Frau … Ich versteh ganz gut, dass die Inquisition euch jagt, aber ich gehöre nicht dazu … Wirf deine Tasche auf den Rücksitz, was klammerst du dich so daran fest, ich nehm sie dir schon nicht weg!«
Die gelbe Mauer zog an ihnen vorbei, immer schneller und schneller.
Ywha atmete stoßweise und schloss die Augen.
Odnyza empfing Klawdi mit einer stickigen Nacht, einer Lichterkette und einem gepanzerten Wagen am Rande der Landebahn, einem schwarzen Ding, das aus der Ferne an einen feuchten Lackschuh erinnerte.
»Nieder mit dem Abschaum, Patron.«
Es verging eine volle halbe Minute, bevor er die Stimme erkannte, diese tiefe und kräftige Stimme einer verhinderten Opernsängerin. Wie sich ihre Trägerin in den letzten drei Jahren verändert hatte! Nicht gealtert war sie, aber sie hatte sich doch stark verändert. Oder trug daran das künstliche gelbe Licht der Scheinwerfer die Schuld?
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