Dar Weter blickte nach Norden, von wo überbeladene automatische Elektrobusse wie Enten angewatschelt kamen. Aus dem ersten Wagen, der anhielt, sprang Weda Kong heraus und rannte, mit den Füßen fast im Gras stolpernd, auf sie zu. In vollem Lauf warf sie sich Dar Weter an die breite Brust, sodass ihm ihre langen, an den Seiten geflochtenen und nun aufgelösten Zöpfe über die Schultern fielen.
Dar Weter hielt sie leicht von sich weg, um ihr in das grenzenlos liebe Gesicht zu blicken, das durch die ungewöhnliche Frisur einen Hauch von etwas ganz Neuem ausstrahlte.
„Ich habe in einem Kinderfilm eine mittelalterliche Göttin des Nordens gespielt und kaum Zeit gehabt, mich umzuziehen“, erklärte die junge Frau etwas außer Atem. „Für die Frisur hat es dann überhaupt nicht mehr gereicht.“
Dar Weter stellte sie sich in einem langen, eng anliegenden Brokatkleid und einer goldenen Krone mit blauen Edelsteinen vor, mit aschblonden Zöpfen bis unter das Knie und einem kühnen Blick in den grauen Augen, und lächelte fröhlich.
„Hast du auch eine Krone gehabt?“
„O ja, so eine.“ Weda zeichnete mit dem Finger die Umrisse eines großen Rings mit breiten Zacken in der Form von Kleeblättern in die Luft.
„Kann ich sie einmal sehen?“
„Noch heute. Ich werde sie bitten, dir den Film zu schicken.“
Dar Weter wollte gerade fragen, wer diese geheimnisvollen „sie“ seien, doch Weda war dabei, den ernst dreinblickenden Physiker zu begrüßen. Dieser lächelte naiv und herzlich.
„Wo sind denn die Helden des Achernar?“ Ren Boos sah sich auf dem leeren Startfeld um.
„Dort!“ Weda zeigte auf ein zeltförmiges Gebäude aus zartgrünen Milchglasscheiben mit silbrigen, durchbrochenen Rippen an den Außenträgern — den Hauptsaal des Kosmodroms.
„Gehen wir!“
„Wir sind dort überflüssig“, sagte Weda entschieden. „Sie sehen sich den Abschiedsgruß der Erde an. Gehen wir lieber zur Lebed. “
Die beiden Männer fügten sich.
Als sie neben Dar Weter herging, fragte Weda leise:
„Sehe ich mit dieser seltsamen Frisur auch nicht zu dumm aus? Ich könnte…“
„Nicht nötig. Sie ist ein bezaubernder Kontrast zur modernen Kleidung — die Zöpfe sind länger als der Rock! Lass es so!“
„Ich gehorche, mein Weter!“, flüsterte Weda, und diese Zauberworte ließen sein Herz schneller schlagen.
Hunderte von Menschen gingen gemächlichen Schrittes auf das Schiff zu. Viele von ihnen lächelten Weda zu und grüßten sie, weit öfter als Dar Weter oder Ren Boos, mit erhobenen Händen.
„Sie sind sehr populär, Weda“, bemerkte Ren Boos. „Woran liegt das — an Ihrer Arbeit als Archäologin oder an ihrer Schönheit?“
„Weder noch — das kommt daher, dass ich durch meine Arbeit immer im Kontakt mit Menschen bin und mich zudem gesellschaftlich engagiere. Sie und Weter vergraben sich entweder in irgendwelchen Labors oder ziehen sich zu anstrengender Nachtarbeit zurück. Sie tun weit mehr und weitaus Wichtigeres für die Menschheit als ich, aber in einem Bereich, der dem Herzen der Menschen nicht unbedingt am nächsten steht. Tschara Nandi und Ewda Nal sind noch viel bekannter als ich…“
„Wieder ein Vorwurf an unsere technisierte Zivilisation?“, tadelte sie Dar Weter belustigt.
„Nein, ich meine die Überreste früherer verhängnisvoller Fehler, wie sie unsere Vorfahren begangen haben. Dabei wussten auch sie schon vor Jahrtausenden, dass die Kunst und damit die Entwicklung der menschlichen Gefühle für die Gesellschaft nicht weniger wichtig sind als die Wissenschaft.“
„Im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen?“, fragte der Physiker interessiert.
„Ja, genau!“
„Irgendein Weiser des Altertums hat einmal gesagt, es sei das Schwierigste auf Erden, sich die Freude zu bewahren“, warf Dar Weter ein. „Schau, Weda, da kommt noch einer deiner treuen Verbündeten!“
Mit leichten und weit ausholenden Schritten kam Mwen Maas geradewegs auf sie zu. Seine riesenhafte Gestalt erregte allgemeines Aufsehen.
„Tschara hat ihren Tanz beendet“, mutmaßte Weda. „Gleich wird auch die Besatzung der Lebed hier sein.“
„Ich an ihrer Stelle würde zu Fuß und so langsam wie möglich gehen“, sagte Dar Weter plötzlich.
„Bist du schon aufgeregt?“, fragte Weda und hakte sich bei ihm unter.
„Natürlich. Mich quält der Gedanke, dass sie für immer von uns gehen und ich das Schiff nie mehr wiedersehe. Irgendetwas in mir sträubt sich gegen diese völlige Ausweglosigkeit. Vielleicht, weil mir diese Menschen nahestehen.“
„Vermutlich nicht deswegen“, mischte sich Mwen Maas ins Gespräch, der nun herangekommen war und schon aus der Ferne Dar Weters Worte mitbekommen hatte. „Das ist der ewige Protest des Menschen gegen die unbarmherzige Zeit.“
„Herbststimmung?“, fragte Ren Boos leicht ironisch und blinzelte dem Freund zu.
„Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, dass gerade tatkräftige, lebensfrohe und tief empfindende Menschen den schwermütigen Herbst in gemäßigten Breiten am meisten lieben?“, entgegnete Mwen Maas und klopfte dem Physiker freundschaftlich auf die Schulter.
„Sehr gut beobachtet!“, rief Weda begeistert.
„Eine sehr alte…“
„Dar Weter, sind Sie auf dem Startfeld?“, erscholl es plötzlich von allen Seiten. „Dar Weter, sind Sie auf dem Startfeld? Sie werden ans Televideofon im Hauptgebäude gebeten. Junius Antus. Junius Antus verlangt Sie. Am Televideofon im Hauptgebäude…“
Ren Boos fuhr zusammen und richtete sich sogleich wieder auf.
„Darf ich mitkommen. Dar Weter?“
„Gehen Sie an meiner Stelle. Sie versäumen nichts, wenn Sie beim Start nicht dabei sind. Junius Antus liebt es, Beobachtungen auf altmodische Weise direkt zu senden, anstatt Aufzeichnungen zu übermitteln — darin ist er sich mit Mwen Maas einig.“
Das Kosmodrom verfügte über ein starkes Televideofon und einen Hemisphärenbildschirm. Ren Boos betrat den stillen runden Raum. Der diensthabende Operateur drückte auf einen Schalter und zeigte auf den rechten Seitenschirm, auf dem ein höchst erregter Junius Antus erschien. Er musterte den Physiker aufmerksam und nickte ihm zu, nachdem er den Grund für Dar Weters Abwesenheit begriffen hatte.
„Zurzeit sind die Stationen auf außerprogrammmäßigen Empfang gestellt — wir suchen nach wie vor in der Richtung und im Bereich 62/77. Nehmen Sie den Richtstrahlenempfänger und peilen Sie das Observatorium an. Ich richte den Strahlenvektor über das Mittelmeer direkt nach El Homra.“ Junius Antus blickte zur Seite und fügte hinzu: „Beeilen Sie sich!“
Der Wissenschaftler an Junius Antus’ Seite erfüllte die Forderung in wenigen Minuten. In der Tiefe des Hemisphärenbildschirms tauchte eine gigantische Galaxis auf, in der beide Wissenschaftler einwandfrei den dem Menschen seit langer Zeit bekannten Andromedanebel oder M-31 erkannten.
In der dem Zuschauer am nächsten gelegenen äußeren Windung seiner Spirale, beinahe im Zentrum der in der Verkürzung linsenförmig wirkenden Scheibe der Riesengalaxis, leuchtete ein Licht auf. Dort zweigte ein Sternensystem ab, das wie ein winziger Wollfaden aussah, in Wirklichkeit jedoch ein riesenhafter Spiralarm von hundert Parsec Länge sein musste. Das Licht wurde immer größer und mit ihm auch das „Wollfädchen“, während die Galaxis selbst hinter der Grenze des Sichtfeldes verschwand. Ein Strom roter und gelber Sterne erstreckte sich quer über den Bildschirm. Das Licht wurde zu einem kleinen Kreis und leuchtete am äußersten Ende des Sternenstroms. Am Rande des Stroms hob sich ein orangefarbener Stern der Spektralklasse K ab. Um ihn kreisten als kaum sichtbare Punkte Planeten. Auf einem von ihnen ließ sich der kleine Lichtkreis nieder und deckte ihn zur Gänze zu. Und plötzlich begann sich alles in roten Windungen und sprühenden Funken zu drehen. Ren Boos musste die Augen schließen…
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