„Noch neun Minuten bis zum Schließen der Luken“, sagte Erg Noor tonlos, ohne Weda aus den Augen zu lassen.
„Noch so lange…!“, rief Nisa mit tränenerstickter Stimme aus.
Weda, Erg, Dar Weter, Mwen Maas und alle anderen, die zur Verabschiedung gekommen waren, fühlten mit Wehmut und Erstaunen, dass es keine Worte für diese Situation gab. Wie sollten sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, angesichts einer Heldentat, die für Menschen begangen wurde, die noch nicht geboren waren, für Menschen, die erst viel später das Licht der Welt erblicken würden. Die Scheidenden wie die Abschiednehmenden waren sich dieser Tatsache bewusst… Was sollten da viele Worte?
Das zweite Signalsystem des Menschen erwies sich als unvollkommen und machte dem dritten Platz. Tiefe Blicke, in denen sich leidenschaftliche, mit Worten nicht wiederzugebende Gefühlsausbrüche widerspiegelten, wurden wortlos und unter größter Anspannung gewechselt oder saugten die karge Natur von El Homra gierig in sich auf.
„Es wird Zeit!“ Erg Noors metallische Stimme klang wie das Schnalzen einer Peitsche auf den angespannten Nerven.
Weda schmiegte sich schluchzend an Nisa. Die beiden Frauen blieben einige Augenblicke lang Wange an Wange und mit fest zugedrückten Augen stehen, während die Männer zum Abschied Blicke und einen letzten Händedruck tauschten. Der Aufzug hatte bereits acht Sternflieger in der ovalen schwarzen Luke verschwinden lassen. Erg Noor nahm Nisa an der Hand und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen errötete, riss sich los und stürzte auf das Sternenschiff zu.
Gemeinsam fuhren Erg Noor und Nisa nach oben.
Den Zuschauern blieb das Herz stehen, als auf dem Vorsprung vor der schwarzen Luke der hell erleuchteten Seite der Lebed zwei Gestalten — ein großer Mann und ein schlankes Mädchen — für einen Augenblick verharrten und die letzten Grüße der Erde entgegennahmen.
Weda Kong presste die Hände so fest zusammen, dass Dar Weter die Gelenke ihrer Finger knacken hörte.
Erg Noor und Nisa verschwanden. Aus der schwarzen Öffnung wurde eine ovale Platte in demselben Grau wie der gesamte Rumpf des Schiffes ausgefahren. Einen Augenblick später hätte selbst das schärfste Auge die Konturen der Öffnung auf den steilen Flanken des kolossalen Schiffsrumpfes nicht mehr ausmachen können.
Das vertikal aufragende Sternenschiff, das auf zwei ausgefahrenen Landestützen stand, hatte etwas Menschliches an sich. Vielleicht entstand dieser Eindruck durch die Kugel am Bug, die mit einer spitzen Haube gekrönt und mit Signallichtern wie Augen versehen war. Oder durch die gerippten Schotten am Mittelteil des Schiffes, in dem sich die Container befanden und die wie die Schulterstücke eines Ritterharnisches aussahen. Das Sternenschiff ragte auf seinen Stützen auf wie ein Riese mit gespreizten Beinen, der verächtlich und selbstsicher über die Köpfe der Menge hinwegblickte.
Drohend heulten die Signale der ersten Bereitschaftsstufe auf. Wie durch Zauber herbeigeholt, erschienen breite, fahrbare Plattformen am Schiff, um die Menge der Abschiednehmenden wegzubringen. Die Stative der Televideofone und Scheinwerfer krochen ebenfalls in alle Richtungen auseinander, ohne jedoch ihre Linsen und Strahlen vom Sternenschiff abzuwenden. Der graue Rumpf der Lebed verblasste und schien an Größe zu verlieren. Am Kopf des Schiffes leuchteten unheimliche rote Lichter auf — das war das Signal für die Startbereitschaft. Die Vibration der starken Triebwerke ließ den harten Boden erzittern — das Sternenschiff begann sich auf seinen Stützen zu drehen, um in Startposition zu gehen. Die Plattformen entfernten sich immer weiter bis hinter die in der Dunkelheit leuchtende Sicherheitslinie auf der Windseite. Dort sprangen die Passagiere eilig ab, und die Fahrzeuge rasten zurück, um die restlichen Zuschauer einzusammeln.
„Sie werden uns und unseren Himmel wirklich nie wiedersehen?“, fragte Tschara Mwen Maas, der sich weit zu ihr hinuntergebeugt hatte.
„Nein. Es sei denn in einem Stereoteleskop…“
Unter dem Kiel des Sternenschiffes leuchteten grüne Lichter auf. Auf dem Turm des Hauptgebäudes drehte sich wie wild das Funkfeuer und schickte eine Warnung über den Start des Riesenschiffes in alle Richtungen.
„Das Sternenschiff erhält das Startzeichen!“, erdröhnte plötzlich eine metallische Stimme von solcher Stärke, dass Tschara zusammenfuhr und sich fest an Mwen Maas klammerte. „Wenn sich noch jemand innerhalb der Gefahrenzone befindet, dann soll er die Hand heben! Heben Sie die Hand, sonst ist es um Sie geschehen! Heben Sie die Hand, sonst…!“ Immer wieder wiederholte der Automat donnernd seine Warnung, während er mit seinen Scheinwerfern das Feld nach zufällig innerhalb der Gefahrenzone zurückgebliebenen Zuschauern absuchte. Nachdem niemand zu entdecken war, erloschen die Scheinwerfer. Der Roboter begann von Neuem zu brüllen, dieses Mal noch grimmiger, wie es Tschara schien.
„Drehen Sie sich nach Erklingen des Glockenzeichens mit dem Rücken zum Sternenschiff, und schließen Sie die Augen! Öffnen Sie die Augen erst wieder beim zweiten Glockenzeichen. Drehen Sie sich mit dem Rücken zum Schiff, und schließen Sie die Augen!“ Donnernd und besorgt erschallte die mechanische Stimme des Roboters über dem Startplatz.
„Das ist ja schrecklich!“, flüsterte Weda.
Dar Weter nahm ruhig die zusammengerollten Halbmasken mit schwarzen Gläsern von seinem Gürtel und setzte die eine Weda und die andere selbst auf. Kaum hatte er die Spange geschlossen, als eine große Glocke mit hohem Ton wie wild zu schrillen begann.
Das Läuten brach ab, und es trat eine solche Stille ein, dass auf einmal selbst das Zirpen der gleichgültigen Zikaden zu hören war.
Plötzlich heulte das Sternenschiff auf, und seine Lichter erloschen. Ein-, zwei-, drei-, viermal zog dieses herzzerreißende Heulen über die dunkle Ebene. Den sensibleren unter den Zuschauern kam es vor, als heulte das Sternenschiff selbst vor Abschiedsschmerz auf.
Das Heulen brach genauso unerwartet ab, wie es eingesetzt hatte. Eine Mauer unvorstellbar heller Flammen begann sich um das Sternenschiff zu erheben. Für einen Augenblick schien außer diesem kosmischen Feuer alles andere auf der Welt stillzustehen. Die Mauer verwandelte sich in eine Feuersäule, wurde immer länger und länger, bis schließlich nur noch ein blendend heller Strich zu sehen war. Die Glocke schrillte zum zweiten Mal, und als die Menschen sich umdrehten, erblickten sie eine leere Ebene, auf der ein riesiger Fleck verbrannten Bodens rot glühte. Hoch am Himmel stand ein großer Stern — das war die Lebed, die sich immer weiter entfernte.
Langsam schlenderte die Menge der Zuschauer zu den Elektrobussen, bald blickten die Menschen zum Himmel, bald auf das Startfeld, das plötzlich unsagbar leblos dalag, als wäre die Hammada von El Homra — der Schrecken und das Unglück vieler Reisender in vergangenen Zeiten — von Neuem erstanden.
Am Südhimmel leuchteten die wohlbekannten Sterne. Aller Augen wandten sich dorthin, wo der grelle, blaue Achernar eben aufging. Bei diesem Stern würde die Lebed nach vierundachtzig Jahren Flugs mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Millionen Kilometern in der Stunde ankommen. Nach irdischer Zeitrechnung vierundachtzig, für die Lebed siebenundvierzig Jahre. Vielleicht würden sie dort unter den grünen Strahlen des Zirkoniumsterns eine neue Welt errichten, ebenso schön und glücklich wie die auf dem Planeten Erde.
Dar Weter und Weda Kong holten Tschara und Mwen Maas ein. Der Afrikaner beantwortete gerade eine Frage des Mädchens.
„Nein, nicht Schwermut, sondern großer und wehmütiger Stolz erfüllt mich heute“, sagte er. „Ich bin stolz auf uns, die wir immer weiter über unseren Planeten hinausfliegen und uns mit dem Kosmos vereinigen. Wehmütig deshalb, weil unsere gute alte Erde immer kleiner wird… Vor unendlich langer Zeit hinterließen die Mayas — die rothäutigen Indianer Mittelamerikas — eine stolz und zugleich wehmütig klingende Inschrift. Ich habe sie Erg Noor gegeben, und er wird sie in der Schiffsbibliothek der Lebed aufhängen.“
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