Die Moderne spiegelte sich nicht nur im Sozialen, sondern vielmehr noch in der technologischen Entwicklung. So trafen etwa die Abhandlungen — aber auch fantastischen Erzählungen — des russischen Wissenschaftlers Konstantin Ziolkowski (1857–1935) auf einen sprunghaft ansteigenden Leserkreis. In seinen Arbeiten entwickelte er die theoretischen Grundlagen des Weltraumflugs und der modernen Kosmonautik — darunter Vorschläge für Ganzmetall-Luftschiffe, Raumstationen, Weltraumtürme, sogar einen Weltraumlift — und wurde damit zum Vorbild einer Heerschar künftiger Ingenieure und Erfinder.
In dieser Welt der russischen Weltraumtechnik, des italienischen Futurismus und der französischen „Voyages extraordinaires“ eines Jules Verne lernt ein Knabe namens Iwan Jefremow sehr früh das Lesen und verschlingt bereits mit sechs Jahren alles, was er an fantastischer Literatur in der Hausbibliothek seines Vaters findet. In Berdjansk am Asowschen Meer — wohin die Familie kurz zuvor zog — besucht er die Schule und liest in seiner Freizeit vor allem auch H. G. Wells, dessen Werk ihn besonders prägt. Beeinflusst wird der Jugendliche aber auch von den Schriften Alexander A. Bogdanows (1873–1928), einem Pseudonym von Aleksandr Malinovskij. Hier vollendet sich das Dreieck aus Technik, Forschung und gesellschaftlicher Utopie, dem wir in Jefremows späterem Werk begegnen. Denn Malinovskij ist niemand anderes als der Führer der russischen sozialdemokratischen Bewegung. Mit „Der rote Planet“ (Krasnaja Swesda, 1908) verfasste er zudem eine der ersten marxistischen Sozialutopien. Darin wird der Raumflug eines russischen Revolutionärs geschildert, der auf dem Mars eine „wahrhaft kommunistische“ Gesellschaft antrifft.
Zweck dieser Erzählung war natürlich Propaganda, doch Malinovskij/Bogdanow bereicherte sie nicht nur um feministische Aspekte, sondern auch um bemerkenswerte technische Voraussagen wie Computer, Atomenergie und künstliche Materialien. Damit nicht genug, stammt von ihm auch eine monumentale Theorie der „Weltorganisationsdynamik“, die sowohl als Systemtheorie, Krisen- und Katastrophentheorie, Theorie der Nachhaltigkeit und globale Kulturtheorie angesehen werden kann. All diese Themen finden wir später in Jefremows „Andromedanebel“ — und mehr noch: Bogdanow kann geradezu als Ideal für die dort geschilderten Wissenschaftler angesehen werden. Deren Streben nach höheren Zielen und ihre persönliche Opferbereitschaft decken sich mit Bogdanows Tätigkeit als Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Bluttransfusionen: Dort leistete er nicht nur medizinische Pionierarbeit, sondern führte auch wissenschaftliche Selbstversuche zum Blutaustausch durch (an denen er 1928, wohl wegen einer infizierten Blutkonserve, starb). Sein Hauptanliegen war es, die Menschheit vor dem Unterschreiten eines kulturellen Standards zu bewahren. Eine weltweite Nivellierung und Anpassung nach unten suchte er literarisch wie politisch zu verhindern: Nie wieder durfte es zum Rückfall in Barbarei und Zivilisationslosigkeit kommen. Auch diese Prämissen haben ganz offensichtlich in Jefremows Werk Eingang gefunden.
Die eigentliche Tragödie des jungen Jahrhunderts bestand in dem Paradoxon, dass so viele europäische Wissenschaftler und Intellektuelle eine „Verbesserung des Menschen“ konzipierten — und dennoch machtlos (oder naiv) zusahen, wie sich der Kontinent in den Ersten Weltkrieg stürzte. Auch Russland erfasste bei dessen Ausbruch eine Welle des Patriotismus. Technisch war das Land auf der Höhe seiner Zeit und setzte bei den Kampfhandlungen erstmals kleine Raketen ein — basierend auf Raketengleichungen Ziolkowskis und Vorläufer der ab 1938 genutzten Katjuscha-Raketenwerfer (auch Stalinorgel genannt). Bestärkt wurde das Gefühl militärischer Überlegenheit durch anfängliche Erfolge gegen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Als diese jedoch von zermürbenden Stellungskriegen abgelöst wurden, gab die Moral der Soldaten nach, und die russische Front brach zusammen. Unzufriedenheit in der Bevölkerung und eine trostlose Versorgungslage führten in der Hauptstadt St. Petersburg zu Demonstrationen der Arbeiter und Bauern. Nach blutiger Niederschlagung stürmten die Demonstranten den Winterpalast und zwangen den Zaren zum Abdanken. Während er mitsamt seiner Familie interniert (und später ermordet) wurde, kam eine provisorische bürgerliche Regierung an die Macht, begleitet von Arbeiterräten, den „sowjets“.
Diese republikanische Herrschaft wich jedoch schon kurz darauf der eigentlichen Zäsur der russischen Geschichte: der von Lenin, Trotzki und den Bolschewiki initiierten Oktoberrevolution. Der Aufstand verwandelte sich rasch in einen Bürgerkrieg zwischen Trotzkis bolschewistischer „Roten Armee“ und einer heterogenen Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und der aus Freiwilligen bestehenden „Weißen Armee“.
Inmitten der Bürgerkriegswirren treffen wir wieder auf Iwan Jefremow: 1919 meldet er sich zu einer motorisierten Kompanie der Roten Armee. Vermutlich macht sich der Elfjährige (!) bei dieser Gelegenheit um ein Jahr älter und gibt an, 1907 geboren zu sein — andernfalls wäre er wahrscheinlich nicht in die Revolutionsstreitkräfte aufgenommen worden. 1907 galt in der späteren Sowjetunion jedenfalls als sein offizielles Geburtsjahr und wurde auch auf seinem Grabstein so angegeben.
Als „Sohn der Kompanie“ kommt Jefremow nach Perekop und nimmt dort an Gefechten gegen die Weißgardisten unter Baron Wrangel teil. Bei einem Artilleriebeschuss durch ein britisches Kanonenboot bei Otschakow wird er schwer verletzt und trägt infolge des Schocks für den Rest seines Lebens ein leichtes Stottern davon. Nach Kriegsende kehrt er nach St. Petersburg zurück und führt dort in Rekordzeit seine schulische Ausbildung zu Ende. 1922 beginnt er mit sechzehn Jahren eine Ausbildung zum Seemann an der Handelsmarineschule. Nach deren erfolgreichem Abschluss fährt er ab Mitte der 1920er-Jahre im Fernen Osten und auf dem Kaspischen Meer zur See, arbeitet als Taucher und schließt sich zoologischen Expeditionen an, bei denen er erste wissenschaftliche Erfahrungen sammelt. Bestimmte Ideen beginnen in ihm zu reifen…
Inzwischen waren die „Roten“ als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen und riefen 1921 die „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ (RSFSR) aus. In raschen Schritten ging die Transformation des einstigen Zarenreiches voran: Am 30. Dezember 1922 einigte man sich auf den Zusammenschluss der Sowjetischen Sozialistischen Republiken zur „Sowjetunion“ und auf eine staatlich kontrollierte Wirtschaftspolitik. Die Sowjets (Räte) wurden zu Eigentümern von Boden und Produktionsmitteln erklärt, der Kommunismus erstmals zur Staatsform erhoben. Dies sollte umfassende Folgen für das Leben im ehemaligen Zarenreich haben, letztlich auch für die russische Literatur.
„Kommunismus“ (von lat. communis = gemeinsam) umfasst im Grunde alle politischen Lehren und Bewegungen, die eine Gütergemeinschaft sowie Gleichheit der Lebensbedingungen ihrer Mitglieder zum Ziel haben. Im weiteren Sinne bedeutet er eine klassenlose Gesellschaft, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben wird. Ein gesellschaftliches Leben auf rationaler und gemeinschaftlich geplanter Basis also. Diese Ideen gab es lange vor Marx bereits bei Plato (in dessen Werk „Politeia“, 380 v. Chr.) und in Tommaso Campanellas „Der Sonnenstaat“ (1602). Die antike Polis und deren Demokratievorstellung galten auch als geistiges Fundament des Humanismus im 16. Jahrhundert. Folgenreich für dieses Denkgebäude war besonders der lateinische Bildungsroman „Utopia“ (1516) des englischen Staatsrechtlers Thomas Morus. Dieser bot — ohne es so zu nennen — eine Art Kommunismus als Gegenbild zur europäischen Feudalherrschaft. Entsprechende Gesellschaftsbilder wurden in der Realität durchaus auch von den urchristlichen Gemeinden, von mittelalterlichen Sekten oder im Jesuitenstaat in Paraguay (1609–1769) praktiziert. Die eigentliche kommunistische Idee als ausdrücklicher Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaftsordnung entstand jedoch erst infolge der Französischen Revolution durch François Noël Babeuf (1760–1797).
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